19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Wie rezensiert man Boris Reitschusters „Putins verdeckte Kriegführung“?

von Siegfried Fischer

Ich wurde vom Chefredakteur des Blättchens gebeten, eine Rezension zu schreiben, und sagte leichtsinnig zu. Ich kannte die Sowjetunion und nach deren Zerfall vor allem Russland seit Jahrzehnten und habe die letzten fünf Jahre in Moskau gelebt und gearbeitet. Ich hatte vor längerer Zeit auch Bücher über den Zerfall der Sowjetunion und ihres Militärs sowie über das nukleare Erbe der Sowjetunion sowohl geschrieben als auch herausgegeben und als Analytiker und Journalist im sicherheitspolitischen Bereich gearbeitet. Also dachte ich mir – das kann so schwierig nicht sein.
Dann nahm ich das Buch in die Hand, blätterte darin und stellte mit Entsetzen fest, dass ich dieses Buch aus freiem Willen weder gekauft, noch gelesen, noch rezensiert hätte. Als ich mich dann noch in die Lebensdaten des Autors vertiefte und mich mit Interviews des „Russlandexperten“ Reitschuster bekannt machte, war ich völlig perplex. Als ehemaliger Deutschlehrer und Dolmetscher mit anschließendem journalistischem Einsatz für den Focus in Russland kann man ihm durchaus abnehmen, dass er den Bazillus Russland im Blut hat. Umso erstaunlicher ist es, dass er sich wahrscheinlich immer mehr fokussiert hat, bis er vor lauter faulen Bäumen den russischen Wald nicht mehr sehen konnte, und sich deshalb seinen eigenen virtuellen Wald erschuf. Er reduziert sein geliebtes Russland auf Putin und erweckt den Eindruck, dem auf der psychoanalytischen Couch in die Seele gekrochen zu sein. Ein selbstverliebter „Putinversteher der anderen Art“ schreibt hier offenbar gegen seinen Phantomschmerz Russland an.
Zunächst habe ich versucht, das Buch unter der Unschuldsvermutung zugunsten des Autors zu lesen. Er hat eine Unmenge von Ereignissen, Historien und Histörchen zusammengetragen und sich dabei auf die russische politische Müllhalde konzentriert. Eine richtige Fleißarbeit! Beim Lesen befiel mich aber bereits nach kurzer Zeit ein Déjà-vu Effekt, weil ich das meiste selber schon in westlichen und russischen Medien gesehen und gehört, respektive teilweise mit eigenen Augen und Ohren in Russland wahrgenommen hatte. Mir fehlte daher der Neuwert. Vor allem aber vermisste ich in diesem Konvolut die journalistische Sorgfaltspflicht und die gebotene historische Genauigkeit. Investigativer Journalismus buchstabiert sich ganz anders!
Was bei Reitschuster herauskam, ist weder eine ernstzunehmende Analyse, noch eine Reportage, noch ein Politthriller. Es ist einfach nur eine peinliche Verschwörungstheorie, die sicher ihr Publikum unter Gleichgesinnten Reitschusters finden wird. Da aber zugleich auch ein Autor dieser Couleur davon ausgehen muss, dass Leselust und Lesewut in Deutschland generell stark nachgelassen haben, griff er nach starken Titeln und Schlagzeilen, die dem unbedarften Publikum Schauer über den Rücken jagen. Als der Autor hingegen in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur gefragt wurde, ob er seine Theorie denn belegen könne, antwortete er: „Allein das, was man weiß, ist sehr, sehr augenscheinlich …“.
Also: „Putins verdeckte Kriegführung“ von Boris Reitschuster – das klingt doch schon mal viel aufregender und gruseliger als etwa „Putin verstehen? Russische Außen- und Sicherheitspolitik der Ära Wladimir Putin“ von Philipp Ewers. Das soll aber beileibe keine Gleichstellung beider Bücher sein. Zwischen ihnen liegen Welten und Halbwelten und leider auch eine Gesellschaft, in der die realistische Analyse und Darstellung russischer Politik bereits besser unter Pseudonym herausgebracht wird, um dem Autor nicht beruflich zum Nachteil zu gereichen, wie der Herausgeber von Philipp Ewers vermerkt.
Reitschuster benutzt außerdem den inzwischen wieder inflationären und aufmerksamkeitsheischenden Kriegsbegriff, obwohl er von offener und verdeckter Kriegführung offensichtlich kaum Ahnung hat. Vielleicht glaubt er wirklich, dass Außen- und Sicherheitspolitik mit verdeckter Kriegführung gleichzusetzen ist?
So schreibt er: „Wladimir Putin setzt alles daran, die USA und die EU zu spalten, die Länder Europas gegeneinander auszuspielen, sie zu destabilisieren und selbst entscheidenden Einfluss auf Europa zu bekommen.“ Er betreibe „Machtpolitik mit dem Ringen um Einflusssphären, die sich auf Militär, Gewalt und KGB-Methoden stützt“. Er „steckt mit seinem Expansionskurs also fest in der Tradition seiner Vorgänger, der Zaren und Generalsekretäre.“ Dennoch hat „der Kreml-Chef … keinen Masterplan. Er ist Taktiker, kein Stratege …“, vielleicht allerdings auch „ein schlechter Stratege, aber ein umso talentierterer Taktiker.“ Taktik ohne Strategie heißt jedoch eigentlich, zu reagieren statt zu agieren. Und das alles macht Putin gut, aber nicht offen, sondern als verdeckte Kriegführung. Chapeau vor so viel Autorenwissen! Hätte er mal lieber Hubert Seibels „Putin: Innenansichten der Macht“ richtig gelesen. Oder hat er vielleicht gar nicht …?
Nicht minder aufschlussreich ist, wie Reitschuster den Gegenspieler des talentierten russischen Taktikers sieht: „Die USA setzen im Wesentlichen darauf, ihren Einfluss informell, wirtschaftlich und technologisch geltend zu machen, vorzugsweise über Kooperation und so weit wie möglich mit ‚Soft Power‘ – ebenso wie die EU, die vorwiegend auf kollektive und kooperative politische Lösungen setzt.“ Noch deutlicher wird er, wenn er die USA als ein System bezeichnet, „das im Ringen nach Dominanz auf wirtschaftliche und technologische Faktoren sowie kulturelle Attraktivität und Institutionen baut, in dem verbindliche Regeln und Kompromisse eine entscheidende und militärische Stärke eher eine untergeordnete Rolle spielen, zumindest was Europa betrifft“. Da haben wir hier in Europa, von Serbien einmal abgesehen, aber Glück. Und so gesehen gehörten Afghanistan, Irak, Lybien und Syrien möglicherweise auch gern zu Europa …
Wenn Reitschuster sich schon in diese Sphären wagt, dann sollte er entweder die (ideologischen?) Scheuklappen ablegen oder wenigstens Zbigniew Brzezinskis „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ gelesen haben. Wenn das zu hoch ist, täte es auch Tom Clancys „Command Authority. Der Kampf um die Krim“, in dem die ihre Interessen verteidigenden guten Amerikaner legal und illegal politisch, wirtschaftlich, finanziell, militärisch und paramilitärisch gegen den angeblich aggressiven russischen Präsidenten und andere Terroristen agieren. Selbst dieses und auch andere Bücher von Clancy hätten Reitschuster einen tieferen Einblick in amerikanische Machtpolitik geben können als den, über den er offenbar verfügt.
Dass Reitschuster als Journalist aber noch nicht einmal die professionellen Berichte seiner Journalistenkollegen über US-amerikanische Wirtschafts- und Finanzpolitik, über die Ausweitung US-amerikanischer Jurisprudenz und Geheimdienstaktivitäten über alle Grenzen hinweg, über die Dominanz des US- Bankensystems, über die US- Dominanz in diversen Freihandelsabkommen, über den weltweiten Einfluss auf die Medien, über die Dominanz in der NATO und anderes mehr kennt, ist unwahrscheinlich. Im Verständnis von Boris Reitschuster müsste all dies, was für Washington ganz selbstverständlich politics as usual ist, eigentlich als verdeckte Kriegführung der USA bezeichnet werden.
Zugleich befindet sich Reitschuster in einem gewissen Dilemma, denn er billigt Putin zu, dass dieser „durchaus zu Recht – Defizite im Westen beklagt, insbesondere in den USA“. Doch das Dilemma währt nur kurz. Reitschuster weiß nämlich auch hier den fundamentalen Unterschied zu benennen:  „Anders als in Wladimir Putins geschlossenem Weltbild sind die Missstände in unserem System […] – zumindest noch nicht – die Norm.“
Wenn Reitschuster einem Putin und der russischen Staatsführung nicht das Recht zugestehen will, die Interessen Russlands unter Berücksichtigung der Interessen aller anderen Staaten zu definieren und zu verteidigen, dann muss er in die alte Kiste der Kremlastrologen greifen und einen „roten“ Faden von Lenin bis in die unmittelbare Gegenwart konstruieren. Aus dieser Sicht erkennt der Autor in der russischen Außenpolitik die „Paranoia als Staatsdoktrin“ und in der Innenpolitik „das System Putin“ als Beispiel dafür, dass „die Mafia … unsterblich“ sei. Genau diese beiden Kapitel bilden folgerichtig den Kern und somit Schlüssel für dieses Buch und die Russlandsicht seines Autors.
Ich kann und will jedoch andererseits – schon um hier keinen eigenen Reitschuster abzuliefern – nicht behaupten, dass das fleißig zusammengetragene kaleidoskopische Material, das der Autor nach Maßgabe seiner Weltsicht durchaus geschickt einsetzt, etwa durchgehend und grundsätzlich falsch oder verlogen wäre. Zumal ich viele Geschichten in meiner Moskauer Zeit selbst gehört und auch einiges Absonderliche erlebt habe. Die Wahrheit ist hier wie auch anderswo leider schon lange der Lüge oder zumindest der Kunst des entstellenden Weglassens unterlegen.
Mich verblüfft allerdings die Suggestion, die Reitschuster insbesondere in diesen beiden Kernkapiteln dem unbedarften oder bereits einschlägig vorgeprägten Leser aufdrückt. Aus diesen Zeilen spricht entweder Hassliebe, die bekanntlich die Wahrnehmung reduziert, oder aber analytisches Unvermögen. Beides steht einem professionellen Journalisten schlecht an. Kennt er etwa nicht die betreffenden Bücher von Peter Scholl-Latour? Insbesondere „Russland im Zangengriff – Putins Imperium zwischen NATO, China und Islam“ aus dem Jahre 2008 und sein „Fluch der bösen Tat“ aus dem Jahre 2014? Scholl-Latours Erkenntnisse hätten Reitschuster vielleicht davor bewahrt, die russische Innen- und Außenpolitik auf einen angeblich kriminellen ehemaligen Geheimdienstler zu reduzieren, dessen Ziel es sei, „das Fundament der westlichen Demokratien wegzuspülen“. Denn wenn diese krude Logik stimmte, dann wäre Putin alles zutrauen, dann wäre er die Inkarnation des Bösen im 21. Jahrhundert. Dann wäre Boris Reitschuster womöglich ein neuer Messias, der mit seinem Weckruf Geschichte schriebe.
Ich sehe in diesem Buch im Übrigen kein Auftragswerk einer Putin-Bashing-Organisation oder gar eines russlandfeindlichen Geheimdienstes, wenn es auch perfekt deren Ziele bedient. Es ist einfach die Weltsicht eines Menschen, der noch nicht verstanden hat, dass es Demokratie an sich nicht gibt und dass die Welt vielschichtiger ist, als seine Vorstellungen von ihr.
Wir wissen doch heute mehr als zur Genüge, dass selbst parlamentarische Demokratien von dominanten politischen Parteien für deren Machterhalt benutzt werden. Es ist es doch heute auch in Europa normal, dass Amigos, Lobbyisten und andere Seilschaften ihre jeweiligen quasipolitischen, geheimdienstlichen, medialen, wirtschaftlichen und finanziellen Einflüsse für diesen Machterhalt einsetzen. Diese Demokratie hat schon lange ihre Unschuld verloren und die der USA erst recht.
Warum sollte es in Russland anders sein, wo dessen Bewohner nach der imperialen Zarensackgasse, dem blutigen Bürgerkrieg, der stalinistischen Diktatur, dem buchstäblichen Überlebenskampf im zweiten Weltkrieg, den politischen Tauwettern und Eiszeiten bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, dem vom Westen unterstützten Brutalokapitalismus und der Gangsterdominanz der neunziger Jahre auf Gesetz und Ordnung hoffen und auch dafür streiten.
Es ist eine journalistische Herausforderung par excellence, über diesen Prozess in diesem beispiellosen Riesenland mit offenen Augen und vorurteilsfrei zu berichten. Denn so wird sichtbar, dass die russische Gesellschaft keineswegs eine von Putin beherrschte „Demokratur“ ist, sondern eine facettenreiche Gesellschaft, die sich die Wahl ihres Weges und ihrer Regierung weder absprechen noch vorschreiben lässt. Erst recht nicht von „Russlandexperten“ vom Schlage eines Boris Reitschuster.
Mein Urteil zu diesem Opus: Setzen, Boris! Null Punkte!