19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Rabbi mit Zylinder in Ascot und in Badehose am Toten Meer, eine Wiener Genie-Verschlingerin, ein wirrer Käfig in Kafkasien, der seinen wilden Vogel sucht …

***

Leichten Fußes eilt er in Schwarz mit Schlips, Hut, wehendem Mantel sowie perfekt gebügeltem weißen Hemd durch Schwerin, Rostock, Wismar. Stürzt vom Bahnhof zum Zeitungsladen, dann mit Plastiktüte durch die Kaufhalle, dann ins spartanische Quartier, dann in die neu eingerichtete Synagoge. Es ist nämlich wieder der eine Mittwoch im Monat, an dem Willy Wolff in aller Herrgottsfrühe in seinem Landhaus „Little Paddock“ früh aus dem Bett springt und im Auto zum Londoner Flughafen kutschiert. Es geht ab nach Berlin-Tegel. Dann weiter im Interregio an die Ostseeküste. Denn William Wolff ist der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern.
Im April 2002, da ist er 75, gab er dem Drängen des Zentralrats der Juden in Deutschland nach, das seit 65 Jahren verwaiste Amt zu übernehmen. Nunmehr ist er für 2000 Menschen mosaischen Glaubens „zuständig“ und betreut sie – jeweils einmal im Monat von Mittwoch bis Sonntag. Weil die Gemeinde überwiegend russisch spricht, fast alle Mitglieder kamen in den 1990er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Nordostdeutschland, lernte Rabbi Wolff schnell noch deren Muttersprache.
Die Dokumentaristin Britta Wauer hat sich drei Jahre Zeit genommen für ihr Filmporträt „Rabbi Wolff“. Sie hing an den Fersen dieses agilen, leicht gebückten alten Herrn, an dem eins sofort auffällt: sein koboldisches Lächeln. Und wenn es nichts zu Lächeln gibt, dann schaut er weg von der Kamera. Willy Wolff – von scheinbar fragiler Statur – ist offensichtlich fest gebaut und gut verschraubt in Gottes Erde, auf der er sich so erstaunlich flink bewegt. Eine standhafte Frohnatur, gekräftigt durch unerschütterliches Gottvertrauen und gesegnet mit einem gerüttelt Maß praktischer Vernunft. „Ich versuche, mein Leben soweit wie möglich zu genießen und zu sehen, dass es Spaß macht. Und wenn irgendetwas keinen Spaß mehr macht, dann wechsle ich einfach.“
Klingt einfach. Ist und vor allem war es aber nicht für einen deutschen Juden, Jahrgang 1927. Die orthodox geprägte Familie (großbürgerliches Elternhaus im Berliner Hansaviertel) floh frühzeitig erst nach Amsterdam, alsbald weiter nach England. Früh schon wollte William Journalist werden. Und Rabbiner.
Zunächst wurde er Parlaments- und Europakorrespondent großer englischer Zeitungen, war in den 70er Jahren Gast in Werner Höfers „Internationalem Frühschoppen“. Mit 53 Jahren jedoch begann Wolff, seinen Herzenswunsch sich (eigenfinanziert) zu erfüllen: das Rabbiner-Studium am Londoner Leo-Baeck-College. Nach der Ordination übernahm er verschiedene Gemeinden in England. Dann 2002 der Ruf aus dem neuen Deutschland. Und zwei Jahre später die Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland. Er bekommt den Ehrendoktor der Uni Greifswald, die Ehrenbürgerschaft Schwerins, das Bundesverdienstkreuz, den Israel-Jacobsohn-Preis.
Was für eine Karriere. Was für ein Leben voller Weltläufigkeit. Wolff spricht fünf Sprachen, besucht seine weithin verstreute, teils streng orthodoxe Familie, liebt Pferderennen. Juri Rosow, Gemeindevorsitzender von Rostock, wundert sich noch heute: „Ich dachte, wir bekommen einen Rabbiner. Aber es kam ein englischer Gentleman.“
Wunderbar und herzergreifend ist es, wenn die Filmregisseurin Wauer immer wieder das so Besondere, für manch Konservative womöglich Absonderliche dieses durch und durch von Verständigung, Versöhnung, Toleranz geprägten, dieses durch und durch frohgemuten, quirligen Seelsorgers ins Bild rückt – etwa am Strand vom Toten Meer in Badehose mit Sonnenschirm oder mit Zylinder in Ascot. Orthodoxes Reglement ist für diesen Rabbi nicht unbedingt von Gott gewollt. Er sagt: „Vorschriften sind ja für die Menschen gemacht. Die jüdischen Gebote sind dafür da, Menschen Orientierung zu geben. Man muss sich aber nicht an irgendwas halten, was keinen Sinn macht.“ Was für ein Erlebnis, diesem so ansteckend frohgemuten Kobold im Kino zuzuschauen. Und was für ein seltsames Gedankenbild: ein Rabbi als Kobold … Tja, bei Willy Wolff kommt eben einiges in eins: der scharfe Denker, der genaue Beobachter, immerzu Lernende, feinsinnig Bescheidene und der Spitzbübische, den das Leben arg beutelte und der dennoch, von Alterswehwehchen gnädigerweise weitgehend verschont, so verrückt lebendig ist. Als ein ehrwürdiger Herr mit Kippa und Hut. – Mit Hut und Kippa. Und einem kecken Kichern. Schalom!

***

Sie wurde gepriesen als schönstes Mädel von Wien und bewundert als Furie sowie flippigste Skandalnudel ihrer Zeit, weil angebetet von den tollsten Kerlen, denen Alma sich auf die verrücktesten wie gängigsten Arten hingab. Gereimtes Motto: „Jeder, der ein Künstler ist, will, dass ihn die Alma küsst.“ Und die Alma wollte es auch – voll von Gefühlen, Gelüsten, Eitelkeit und Machtgier. Womit das wilde Weib schließlich zu einem hinreißend widersprüchlichen Gesamtkunstwerk wurde voller Schönheiten und Schlimmheiten.
Die Sachlage ist zwar einigermaßen weltbekannt. Und doch schafft es das von Kleinbühnen aller deutschsprachigen Länder – gerade von der Berliner Bar jeder Vernunft – fleißig gebuchte Künstlerduo Nini Stadlmann & Tom van Hasselt, dieser Bizarrerie neue Drauf- und Einsichten abzuringen. Die Sänger-Schauspielerin und der dichtende Pianist offerieren in ihrem süffisanten kabarettistischen Zweistunden-Musical „Alma und das Genie“ zum einen eine frivol-ironische Selbstsicht der großen Dame (bei der sich „ich genies“ auf „die Genies“ reimt). Zum anderen entrollen Stadlmann & Hasselt einen sarkastischen Dialog über das Subjekt ihrer ironisch distanzierten Bewunderung. Zusammen mit Gesang und mit mal schwärmerischer, mal wuchtiger Klaviermusik kommt da ein packendes Porträt der teuflisch durchtriebenen, himmlisch naiven Göttin namens Alma zustande. Die ganze große feuilletonistisch-literarische Kleinkunst von Polgar, Tucholsky, Kästner bis Hollaender oder Kreisler schwingt mit in diesem musikalisch-literarischen Kabinettstück voller Frivolität, Witz und Ironie sowie gezielt dosiertem Zynismus. Da geht die Post ab ohne Federboa-Werfen, Wimperngeklimper oder Schmachtaugenverdreherei.

***

Auf seine originelle Sicht auf Lessings „Nathan“ (Querbeet 14.9.15) im Deutschen Theater lieferte Andreas Kriegenburg kürzlich im selben Berliner Haus eine atemberaubende Franz-Kafka-Paraphrase: „Ein Käfig ging seinen Vogel suchen“. Den paradoxen Titel dieser kunstvoll verspielten Zwei-Stunden-Veranstaltung gab der Aphorismus Nummer 16 aus Kafkas einschlägiger Sentenzen-Sammlung. – Und dieser Käfig ist, um im kafkaesken Bilde zu bleiben, die Welt, die Draußenwelt, die sich ihren Vogel sucht: hier den gutbürgerlichen Schlips- und Aktentaschenträger Blumfeld, der immer nervöser, immer aggressiver reagiert auf immer bedrohlicher wirkende Zeichen der als feindlich empfundenen Draußenwelt – das allgemein ungeordnete, zunehmend ungeordnetere Weltgeschehen. Der Wahn, das Vermeintliche und das Reale in absurder und wiederum in zugleich un-absurder Verquickung als gespenstisch wankender Urgrund unseres Daseins, der uns immer und immer wieder so bedrohlich zu Leibe rückt und in Angst versetzt, der wird von Kriegenburg in grotesk-komische, unheilvolle Bilder gebracht. Allein schon in seinem staunenswerten Bühnenbild aus verrückt übereinander gestapelten, ineinander verschachtelten identischen Bürgerstuben.
Durch die geistert nun in kunstvoller Choreographie der von wirklichen oder nur eingebildeten Störungen des normalen Daseins, der gewohnten Welt irritierte, schließlich verängstigte Angestellte Blumfeld in surreal vielfacher Ausführung. Sie wird von einer Handvoll toller Spieler mit identischen Gesichtsmasken sowie braungrauen Geschäftsanzügen überm weißen Hemd mit Schlips demonstriert. Banaler Alltag ins höchst Befremdliche gesteigert. – Quält uns das echte Leben? Und was ist echt? Oder quälen die Ängste davor samt dieser Frage? Was ist Wahn, was Wirklichkeit? Wie mischt sich beides? Kafka-Fragen! Äußerst gegenwärtige. Kriegenburg stellt sie ernsthaft und doch mit Witz. Kafka pur, amüsant, erschreckend, aufschreckend.