19. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2016

Eine neue Sicht auf den Judenmord?

von Mario Keßler

Selbst Experten können die Literatur zum Mord an den europäischen Juden wohl nicht mehr vollständig erfassen. Spezialstudien zu einzelnen Regionen, Biographien über die Täter der ersten und zweiten Reihe oder den jüdischen Widerstand haben ebenso ihren Platz gefunden wie Gesamtdarstellungen, die die Frage beantworten wollen: Wie konnte es geschehen?
Zur letztgenannten Gruppe gehört Timothy Snyders Buch Black Earth, dessen englischen Titel der deutsche Verlag übernahm. Innerhalb der beiden lange dominierenden Schulen der westlichen Geschichtswissenschaft zum Thema – den Intentionalisten, die den Judenmord als lange geplantes Projekt Hitlers sahen, und den Funktionalisten, die ihn als wichtigste Komponente einer eskalierenden Gewaltherrschaft bezeichneten – lässt sich Snyder, Professor an der amerikanischen Yale-Universität, eher dem letzteren Lager zuordnen. Sein Erklärungsmuster ist aber durchaus originell: Laut Snyder sei Hitler von einer, sozusagen, rassistischen Ökologie besessen gewesen. Die Juden hätten als Drahtzieher der Weltwirtschaft durch planvoll herbeigeführte Wirtschaftskrisen für Hungerkatastrophen gesorgt; so seien ohne sie weder die britische Hungerblockade gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg, noch die Große Depression der dreißiger Jahre denkbar gewesen. Auch für die Hungersnöte in der Sowjetunion seien sie in hohem Maße verantwortlich; hier habe Hitler das Zerrbild von den „Juden hinter Stalin“ propagandistisch ausgebeutet.
Hitlers habe die Konsequenz gezogen, die Juden zu vernichten, um einer künstlichen Verknappung von Nahrungsmitteln vorzubeugen. Dazu bedürfe es aber zunächst der Eroberung von „Lebensraum“, denn nur so könne die „höherwertige“ arische Rasse eine ausreichende Produktion agrarischer Lebensmittel sicherstellen. Ein solcher Lebensraum habe sich vor allem im Osten Europas angeboten. Das Naziregime musste also die vorhandenen staatlichen Strukturen dort zerschlagen, denn nur deren Abwesenheit garantierte eine totale Kontrolle der Gebiete durch die Besatzer – und eröffnete auch die nötigen Freiräume, um die „Endlösung der Judenfrage“ effizient zu „gestalten“.
Snyder stellt die Verbindung von Hitlers Ausrottungs-Rassismus mit der Staatstheorie Carl Schmitts heraus. Laut Schmitt solle der Staat die Gesellschaft vollständig befrieden, um allgemein-gültige Rechtsnormen zu schaffen und durchzusetzen. Die so geschaffene politische Einheit überwinde jedoch den traditionellen Staat und sei vielmehr ein politischer Großraum. Konsequenterweise bedürfe dieser einer starken, von parlamentarischen Bindungen unabhängigen Führung. Der Führer, nun also Hitler, schaffe das Recht und setze die Rechtsnormen. Er entscheide, wer Freund und wer Feind sei.
Schmitt, ein intellektuell hochstehender Verächter von Parlamentarismus und Gewaltenteilung und ein zynischer Antisemit, diente sich in der Tat Hitler an. Doch überschätzt Snyder Schmitts Rolle als Stichwortgeber des deutschen Faschismus: das Naziregime bediente sich zwar Schmitts Ideen, doch hielt es ihn von wirklichen Machtpositionen fern. Hitler bedurfte keiner subtilen intellektuellen Untermalung seiner barbarischen Politik. Wichtiger erscheint hingegen die Betonung geopolitischer Ideen für Hitler und seine Paladine (wiewohl doch der bekannteste Vertreter dieser Denkrichtung, Karl Haushofer, am Ende alles andere als glücklich war, zumal sein Sohn als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde).
Überhaupt scheinen manche Erklärungen für das so schwer Erklärbare in Snyders Buch etwas weit hergeholt. In großer Detailtreue und mit eindringlichen Worten schildert der Autor, wie die deutschen Besatzer im besetzten Osteuropa – bei sich immer weiter steigerndem Terror – jede staatliche Struktur zerstörten und jede überkommene Autorität der Vernichtung preisgaben. Eine solche Radikalisierung sei sowohl Voraussetzung als auch Bestandteil des Mordes an den Juden gewesen. Dem ist aber zu entgegnen, und Snyder räumt dies an einer Stelle auch selbst ein, dass in weiten Teilen Osteuropas, in Ungarn, der Slowakei, in Rumänien und Kroatien, sehr wohl funktionsfähige staatliche Strukturen fortexistierten, in Ländern also, deren Satellitenregime am Holocaust mitbeteiligt waren.
Snyder beschreibt die Eroberungs- und Ausrottungspolitik, wenn auch nicht immer mit der nötigen begrifflichen Klarheit, als zwei extreme Komponenten imperialistischer Herrschaft. Mehr als fragwürdig ist jedoch die allzu rasche Ineinssetzung des Hitler- mit dem Stalinregime, die beide im Baltikum, in Ostpolen und der Westukraine nacheinander die staatlichen Strukturen zerstört hätten, was „erleichterte“ Voraussetzungen für die „Durchführung“ des Holocaust geschaffen habe. Doch ermordete die Rote Armee die Juden nicht, sondern half ihnen zu überleben, was Snyder an anderen Stellen des Buches auch würdigt.
Im letzten Kapitel aber verfängt sich Snyder in den Fallstricken einer – es sei bemerkt: keineswegs bloß grobschlächtigen – Totalitarismus-Theorie und gelangt zu teilweise haltlosen Behauptungen. Von der sehr nachvollziehbaren Sorge getrieben, eine Menschenvernichtung dieses Ausmaßes könne sich wiederholen, sieht er im Kampf um Territorien, Wasser und andere Naturressourcen die Vernichtung überflüssiger und „lebensunwerter“ Menschen stets als latente Möglichkeit angelegt. Snyder geht soweit, in Wladimir Putin einen potenziellen Zerstörer europäischer Staatlichkeit zu sehen, was ihn in letzter Konsequenz zu seinem Horrorszenario führt. Putin habe sich „an die Spitze der populistischen, faschistischen und neonazistischen Kräfte in Europa gestellt. Moskau unterstützt Politiker, die das weltweite Judentum für globale Probleme verantwortlich machen“. Wohl deshalb gehören Benjamin Nethanyahu und Avigdor Liberman zu Putins Bewunderern, wie der Rezensent nachfragen möchte. Auch China, das – wie Snyder unzutreffend und ohne Beleg behauptet – angesichts des Klimawandels seine wachsende Bevölkerung bald nicht mehr ernähren könne, entwickle sich in diese Richtung.
Solche spekulativen Ausflüge in die Zukunft trivialisieren in letzter Konsequenz jedoch den Holocaust, anstatt zu seiner Erklärung beizutragen – wohl das Letzte, worauf Snyder hinaus will. Damit sei von einer Lektüre des Buches keineswegs abgeraten. Wer aber dem Ursachengeflecht des schrecklichsten Kapitels der menschlichen Geschichte genauer nachspüren möchte, sollte zuvor zu Büchern von Autoren wie Raul Hilberg, Saul Friedländer, Yehuda Bauer, Walter Laqueur, Peter Longerich, Wolfgang Benz oder Kurt Pätzold – diese Namen stehen für andere – greifen.

Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Verlag C. H. Beck, München, 2015, 488 Seiten, 29,95 Euro.