19. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2016

Der Gesetzgeber ist Wiederholungstäter

von Christian Bommarius

Wäre die Verletzung von Grundrechten strafbar, dann wäre spätestens jetzt, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das BKA-Gesetz klar: Der deutsche Gesetzgeber ist ein Intensivtäter. So werden Wiederholungstäter bezeichnet, die in einem begrenzten Zeitraum mehrfach kriminell in Erscheinung treten. Von Rückfalltätern, die nur gelegentlich Straftaten verüben, unterscheiden sie sich durch eine besonders hohe Sozialgefährlichkeit aufgrund von Art, Schwere und Häufigkeit der Delikte.
In den mehr als eineinhalb Jahrzehnten seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat das Bundesverfassungsgericht in nunmehr 15 Entscheidungen über Sicherheitsgesetze dem Gesetzgeber einen dramatischen Mangel an Respekt vor dem Recht auf Privatsphäre vorgeworfen. Zwar haben die Richter nur in einem Fall – die Erlaubnis zum Abschuss entführter Passagierflugzeuge – ein Instrument der Terrorbekämpfung vollständig verworfen, aber ihre Ermahnungen, mit der Freiheit der Bürger pfleglicher umzugehen, sind mit den Jahren immer lauter geworden – sie wurden und werden überhört.
Als die große Koalition unter Federführung des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble (CDU) im Jahr 2008 das BKA-Gesetz gegen den Protest von Rechtsexperten, Bürgerrechtlern, Berufsverbänden und sogar mehr als zwei Dutzend sozialdemokratischer Abgeordneter durchboxte, die auf die offensichtliche Gefährdung der Privatsphäre durch etliche Regelungen im Gesetz verwiesen, beteuerte Schäuble, das Vorhaben sei „zu hundert Prozent“ grundgesetzkonform. So spricht ein Intensivtäter, den keine Erfahrung und keine Einsicht von dem nächsten Delikt abhalten kann. Man möchte nicht wissen, wie gravierend ein Verfassungsbruch aussehen muss, damit Schäuble dem entsprechenden Gesetz nur „zu neunundneunzig Prozent“ Verfassungskonformität bescheinigt.
Das Urteil über das BKA-Gesetz ist ein Grundsatzurteil nicht nur, weil es – wieder einmal und wieder einmal unmissverständlich – die Bedeutung der Privatsphäre auch in Zeiten der Bedrohung durch den Terror hervorhebt. Grundsätzlich ist seine Bedeutung auch, weil es die Anwendung aller Instrumente zur Terrorbekämpfung – weit über das BKA-Gesetz hinaus – en détail verfassungsrechtlich regelt. Das oberste Gebot ist danach der Schutz des Kerns der privaten Lebensgestaltung. Das Bundeskriminalamt darf also zwar unter bestimmten Voraussetzungen in Wohnungen lauschen und spähen und es darf auch Computer durchsuchen, aber es darf nicht, wie bisher, selbst entscheiden, was mit den gewonnenen Informationen zu geschehen hat – sie sind von einer unabhängigen Stelle zu prüfen, bevor das BKA sie verwerten darf.
Darüber hinaus untersagt der Erste Senat den Lauschangriff in Wohnungen der Kontaktpersonen von Verdächtigen. Die Überwachung müsse sich auf die Wohnungen von Zielpersonen beschränken. Die Wohnraumüberwachung ist ein „besonders schwerwiegender“ Eingriff in die Privatsphäre: „Deshalb bleibt die Angemessenheit einer solchen Überwachungsmaßnahme nur gewahrt, wenn sie ausschließlich auf Gespräche der gefahrenverantwortlichen Zielperson selbst gerichtet ist.“ Komplett verfassungswidrig ist die bisherige Praxis, wonach das BKA nach Belieben abgeschöpfte Informationen an inländische und ausländische Sicherheitsbehörden weitergeben darf. Im letzteren Fall verlangt das Bundesverfassungsgericht die vorherige „Vergewisserung über einen menschenrechtlich und datenschutzrechtlich vertretbaren Umgang mit den Daten“. Das müsste auch Konsequenzen haben für den Datenaustausch von Bundesnachrichtendienst und dem US-amerikanischen Geheimdienst NSA.
Das Urteil bündelt vorangegangene Entscheidungen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Die Richter sind sich der Gefahren des Terrorismus jederzeit bewusst, sie hatten selbstverständlich die Anschläge von Paris und Brüssel vor Augen. Aber sie bestehen darauf, dass die Terrorbekämpfung eines Rechtsstaats nicht mit der Preisgabe der Privatheit erkauft werden darf. Das gilt nicht nur für das BKA-Gesetz, sondern für die gesamte Sicherheitsarchitektur, die nach diesem Urteil etlicher und massiver Umbaumaßnahmen bedarf, wobei dem Bundesdatenschutzbeauftragten künftig eine größere Rolle zufallen muss.
Es ist eine bedeutende, eine kluge Entscheidung. Sie ist der Leitfaden – zumindest sollte sie es sein –, der dem Gesetzgeber den Weg zwischen Sicherheit und Freiheit weist. Bedauerlich ist allein, dass das Bundesverfassungsgericht den Schutz von Berufsgeheimnisträgern vor Überwachung allein von den Strafverteidigern auf alle Anwälte erweitert, aber beispielsweise nicht auf Ärzte und auf Journalisten. Der Gesetzgeber hat bis Ende Juni 2018 Zeit, die vom Bundesverfassungsgericht verlangten Änderungen umzusetzen. Nichts hindert ihn, dann auch Ärzte und Journalisten als Berufsgeheimnisträger zu schützen.

Aus Frankfurter Rundschau online, 20.04.2016. Ãœbernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.