19. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2016

lit.Cologne. 16. Durchgang*

von Alfons Markuske

Ein bewährtes Format der lit.Cologne besteht in Themenabenden: Literatur wird nach Texten zu gemeinsamen Schlüsselworten oder anderen verbindenden Klammern durchgrast, die Fundstücke werden mit intelligent-witzigen, manchmal auch ein wenig bemühten Conférencen verknüpft und Schauspieler, denen ein Moderator beisteht, bringen das Ganze zum Vortrag.
Ein Thema 2016 – das Freund-Feind-Zwitterwesen Telefon. „Ihre Verbindung wird gehalten“, dafür sorgten mit Annette Frier und Christian Brückner zwei gestandene lit.Colognisten, die der moderierend assistierende Christian Ankowitsch bestens ergänzte. Friers/Brückners Vortrag des hart an gegenseitige Folter grenzenden Telefonats zwischen Herrn Lehmann, aus Sven Regeners gleichnamigem Roman, und seiner Mutter lieferte das Kabinettstück einer hysterischen Mutter-Sohn-Obsession. Man begriff auch den wirklichen Wert des Telefons: Es hält Distanz, wo sonst Mord und Totschlag angesagt wären. Den Programmablauf störte im Übrigen auch nicht, dass ein Text von Dorothy Parker bereits in das letztjährige Thema Liebeserklärungen gepasst hatte (damals vorgetragen von Nina Kunzendorf). Das Stück ist höchst amüsant, und sollte für den 17. Durchgang ein Abend „Monologe mit Gott“ geplant sein, dann könnte das Tripel voll gemacht werden. Eine Empfehlung zur Besetzung der Sprecherin: Dagmar Manzel oder Corinna Harfouch.
Ein weiteres Thema 2016 – „Frankenstein friert! 1816 – das Jahr ohne Sommer“. 1815, als Napoleon den Grundstein zur späteren Weltkarriere einer schwedischen Popgruppe legte, woran Moderator Frank Schätzing erinnerte, war am anderen Ende der Welt der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen. Er schleuderte gigantische Mengen an Staub und Asche in die höhere Atmosphäre, Partikel davon gelangten bis Europa und reduzierten hier im Folgejahr die Sonneneinstrahlung derart, dass Ernten ausfielen und Menschen verhungerten.** Claudia Michelsen und Richie Müller brachten Zeitzeugenberichte von 1816 zu Gehör. Seinerzeit war auch in der Schweiz das Sommerwetter so katastrophal, dass Dauerregen die Gäste in der Villa des englischen Dichters Lord Byron ins Haus bannte, wo Langeweile überhand zu nehmen drohte. Byron lobte kurzerhand einen Schreibwettbewerb für Schauergeschichten aus, was die erst 19-jährige Mary Godwin auf die Idee zu ihrem „Frankenstein“ brachte, mit dessen Erscheinen 1818 sie als Mary Shelley, zu der sie ihre zwischenzeitliche Heirat gemacht hatte, in die Weltliteratur einging.
Auch Thema 2016 – „Gift und Galle. Sie schimpfen, die Dichter“. Die Veranstaltung entpuppte sich als Brachial-Workshop für weichgespülte Schriftsteller, denen der ihnen gebührende Respekt weder von Verlegern noch von den Medien oder dem Publikum und schon gar nicht von Berufskollegen entgegengebracht wird. Und da Täter und Opfer ja immer zusammengehören, muss ein zielführendes Coaching danach trachten, letztere zu ersteren zu machen. Das sollte Coach Robert Dölle mit den Probanden Anna Thalbach und Robert Stadlober denn auch recht gut gelingen. Zum Beispiel unter Rückgriff auf Thomas Bernhard, diese „Blaupause des schlechten Benehmens“. Und auf Sybille Lewitscharoff, die politisch noch weit Unkorrekteres zu bieten hat als nur dieses: „Ein typischer Bulgare ist stark behaart, hat perfekte weiße Zähne, isst Knoblauch und wird steinalt.“ In der Abteilung Kollegen-Bashing konnte auf besonders treffliche Beispiele zurückgegriffen werden. „Ein Schleim von höchstem Adel“ (Bertolt Brecht über Gottfried Benn), „eine fette Kuh voller Tinte“ (Gustave Flaubert über George Sand) oder kurz und apodiktisch „die reine Schei…e“ (Thomas Mann über die literarische Produktion des Kollegen Feuchtwanger, den er während gemeinsamer Exiljahre in dessen Villa in Los Angeles gleichwohl gern besuchte, um sich dort bewirten und vor allem immer wieder ein Publikum namhafter anderer Gäste für den Vortrag eigener Texte bieten zu lassen). So bestätigte der Abend aufs schönste Raimund Fellinger, Cheflektor bei Suhrkamp, der seine alltägliche Peinigung zu der Sottise verknappte: „Welcher Schriftsteller ist kein Kotzbrocken!“
Ein Sonderformat der lit.Cologne 2016 befasste sich mit Hitlers polit-propagandistisch-pornographischer Sudelschrift „Mein Kampf“. Pünktlich zum Fall aller urheberrechtlichen Hürden gegen eine Wiederveröffentlichung – seit 1. Januar ist das Buch gemeinfrei – hat das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) eine zweibändige, exzessiv (3.700 Anmerkungen!) wissenschaftlich kommentierte Ausgabe herausgebracht, und das Theaterkollektiv Rimini Protokoll hat eine Annäherung an Hitlers Ergüsse in Gestalt einer audiovisuellen Collage mit Laiendarstellern auf die Bretter des Deutschen Nationaltheaters in Weimar gestellt. In Köln diskutierten über den gemeinsamen Gegenstand und ihre jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen der Historiker Christian Hartmann, der beim IfZ-Projekt den Hut aufhatte, sowie Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Theaterkollektiv. Im Unterschied zu ersterem blieben letztere den Beweis eines „Nährwertes“ ihres Unterfangens schuldig. Auch Moderatorin Bettina Boettinger erschloss sich sichtlich nicht, was es, wie aus Weimar eingespielt, bringt, sich Hitlers Wälzer ans Ohr zu halten, um zu lauschen, wie denn dessen Sound sei, und dieses virtuelle Klangerlebnis dann per Keybord dem Theaterpublikum zu Gehör zu bringen. (Das Magazin Kultur21 extrahierte aus dieser Szene folgende Sentenz: „Mein Kampf klingt für mich wie ein brummender Maikäfer.“). Silvester Groths Vortrag einiger von Hartmann ausgewählter „Mein Kampf“-Passagen hingegen ließ erahnen, welche Suggestivwirkung Hitler beim Publikum zu erzielen vermochte – ungeachtet aller (oder gerade wegen seiner?) patriotisch-sentimentalen Hohlheit sowie Geschichtsverfälschung und offenen Mordhetze, etwa wo es um den Ersten Weltkrieg und die Novemberrevolution ging.

* – Teil I ist in Ausgabe 7/2016 erschienen.

** – Am Ende des XX. Jahrhunderts sollten dieses und ähnliche Phänomene amerikanischen und sowjetischen Wissenschaftlern als zusätzlicher Beleg für ihre Warnung vor einem globalen nuklearen Winter dienen, wozu es im Falle eines Atomkriegs kommen könnte. Da seit einiger Zeit die Gefahr eines dritten Weltkriegs bei Politikern und in den Medien, dort überwiegend auf Infotainment-Niveau, ein Revival erlebt, sollte man die entsprechenden Publikationen – zum Beispiel Paul R. Ehrlich / C. Sagan: Die nukleare Nacht, Köln 1985 – vielleicht aus den Tiefen der Archive (nicht zu) langsam wieder ans Licht holen!