19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

Die AfD – der neoliberale Erbe der FDP?

von Stephan Wohanka

Morgens lese ich erst Zeitung, dann surfe ich im Internet; tägliche Routine…
In einem der vielen Nachrufe auf Guido Westerwelle las ich: „ […] hatte er der FDP ein neues Grundsatzprogramm verordnet, das mehr denn je die Interessen der Wirtschaft hervorhob. Und vor allem: den freien Markt.“ Im Netz widmete ich mich dem, nun ja, Grundsatzprogramm der AfD –und sofort fiel mir zitierte Passage aus dem Nachruf ein.
Am Anfang Fanfare: „Wir sind Liberale und Konservative. Wir sind freie Bürger unseres Landes. Wir sind überzeugte Demokraten“. Toller Sound! Und er klingt nach: „Uns leitet die Idee eines freien Deutschlands in der Welt. Die freiheitlich-demokratische Ordnung des Grundgesetzes ist unser Wegweiser. Wir wollen Chancengerechtigkeit, Wohlstand für alle, Freiheit, Sicherheit, Selbstverantwortung und einen sozialen Rahmen zur Selbstverwirklichung, die dort enden muss, wo Rechte Dritter beeinträchtigt werden.“ Der Praxistest degradiert diese hehren Anliegen teils zu Vokabeln, aber das Programm ist ja auch nicht in Kraft. Bezeichnenderweise „kann nur ein schlanker Staat daher ein guter Staat sein. […] Der Staat hat sich verzettelt. Es bedarf neuer Konzentration auf die vier klassischen Gebiete: Innere und äußere Sicherheit, Justiz, Auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung. […] Wir wollen prüfen, inwieweit vorhandene staatliche Einrichtungen durch private oder andere Organisationsformen ersetzt werden können“. Zu vermuten ist, dass dann Bildung – oft genug und zu Recht Gegenstand der Kritik auch im Blättchen – dann wohl nicht mehr zu den originären staatlichen Obliegenheiten gehörte, oder?
Zur Wirtschaft: Da kann sich die AfD noch nicht recht über das Niveau der „Blockparteien“ erheben, denn „anknüpfend an unsere Vorstellungen von der Rolle des Staates plädieren wir im Bereich der Wirtschaft für eine Ordnungsethik auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie von Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke entwickelt und von Ludwig Erhard umgesetzt wurde“. Ich kenne keine Partei, die nicht auf Erhards „Soziale Marktwirtschaft“ rekurrierte; selbst in der Linken steht sie hoch im Kurs. Die Konsequenz, die die AfD daraus zieht – „der Staat ist nicht Spieler, sondern Schiedsrichter und Garant der sozialen Marktwirtschaft“ – unterstelle ich dagegen nicht den anderen; denn da ist die AfD deutlich weiter: „Ziel ist Wohlstand für alle. Es gilt: Privat vor Staat“.
An dieser Stelle ist es hohe Zeit, ins Detail zu gehen – und konsequenterweise „ tritt die AfD dafür ein, dass Deutschland auch bei den sozialen Sicherungssystemen eine Rückbesinnung auf bewährte Tugenden braucht. Die staatliche Sicherung ist für Notlagen gedacht, darf nicht überfordert werden und soll und kann die Familie als Keimzelle gesellschaftlicher Solidarität nicht ersetzen. […] Wir wollen daher eine Reform der sozialen Sicherungssysteme“. An erster Stelle steht dabei die Forderung, „das Arbeitslosengeld I (zu) privatisieren. Arbeitnehmern steht dann der Weg offen, mit eigenen und individuell maßgeschneiderten Lösungen für den Fall der Arbeitslosigkeit vorzusorgen. Dabei können private Versicherungsangebote ebenso eine Rolle spielen wie die Familie oder der Verzicht auf Absicherung zugunsten des schnelleren Aufbaus von Ersparnissen“. Mal ganz lässig die FDP rechts überholt.
Desgleichen sollte Hartz IV reformiert werden und zu einer sogenannten „Aktivierenden Grundsicherung“ umgebaut werden, wobei „der staatliche Unterstützungsbetrag der Grundsicherung mit wachsendem Einkommen immer weiter abschmilzt, bis ab einem bestimmten Einkommen Einkommensteuer zu entrichten ist, statt einen staatlichen Unterstützungsbetrag zu erhalten“. Wenn damit gemeint ist, dass diese „Grundsicherung“ den Charakter dessen hätte, was als „bedingungsloses Grundeinkommen“ diskutiert wird, fände ich es zumindest keine abwegige Idee”. Was nicht von der Reform der „gesetzlichen Unfallversicherung für Arbeitnehmer“ zu behaupten ist, wenn diese ebenfalls über „eine Vielzahl von privaten Angeboten, mit deren Hilfe Unfallrisiken angemessen abgesichert werden können“, den Arbeitnehmern selbst überlassen werden soll. Und das, um den „Arbeitnehmern die Flexibilität geben, sich freiwillig für eine Teilnahme an der gesetzlichen Unfallversicherung zu entscheiden“.
So gar nicht ins Schlanke-Staat-Konzept passt dagegen folgender Passus: „Der gesetzliche (! – St. W.) Mindestlohn ist mit dem Wesen der Sozialen Marktwirtschaft eng verbunden. Er korrigiert im Bereich der Entlohnung die Position der Niedriglohnempfänger als schwache Marktteilnehmer gegenüber den Interessen der Arbeitgeber als vergleichsweise starke Marktteilnehmer“. Ein Lapsus der Programmkommission? Mitnichten. Hier offenbart sich ein Riss innerhalb der AfD, der das Zeug zu einem (nächsten) Richtungsstreit hat: Ist die AfD die „Partei der kleinen Leute“, wie es der Brandenburger Alexander Gauland beschreibt und wie sie sich in Sachsen-Anhalt präsentierte oder sollte sie personell eher – da der FDP und auch den Grünen nicht unähnlich – auf Anwälte, Apotheker, Mittelständler, Beamte setzen, wie es dem Schwaben und VWL-Professor Jörg Meuthen vorschwebt: „Wir können nicht nur eine Partei der Geringverdiener und Arbeitslosen sein“. Die alte „Lucke-AfD“ lässt grüßen.
Schaut man in die Analysen der Landtagswahlen, so liegen im Wahlvolk der AfD in Ost und West die Arbeitslosen vorn; im Osten stärker als im Westen. Die Frage – wie lange können diese Milieus, ja Strömungen (noch) zusammengehalten werden? Denn das Wahlergebnis widerspricht dem wirtschaftspolitischen Teil des vorliegenden Programmentwurfs wenn nicht diametral, so doch erheblich.
Damit ist klar – die Titelfrage nach dem FDP-Erbe ist noch nicht zu beantworten. Im Wahlkampf hatte die AfD keine soziale Schicht gezielt umworben; die alles zusammenhaltende Klammer war Protest gegen „die da oben“, gegen Dinge und Geschichten, die schon lange unter der Oberfläche brodelten, gegen Verluste, auch vermeintliche. Arm oder reich zu sein spielten dabei keine Rolle. Im Wahlkampf zur nächsten Bundeswahl im September 2017 wird die Partei nicht mehr umhin kommen, sich in der Wirtschafts- und namentlich der Sozialpolitik eindeutig(-er) festzulegen; schlichter Missmut an den Verhältnissen wird dann vermutlich nicht mehr (allein) tragen.