19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Querbeet (LXVII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Eislers, Grimms und ein schwarzes Viereck …

***

Ein geschwisterliches Trio aus dem 20. Jahrhundert. Erstens: Hanns Eisler, Schönberg-Schüler, Karl Marx der Musik, von der DDR gemaßregelter Komponist der DDR-Nationalhymne, die musikalisch dem Haydn-Quartett nicht nachsteht, dafür steht der Text des dazugehörigen Deutschlandlieds weit unter dem der Becherschen DDR-Hymne. – Zweitens: Gerhart Eisler, Komintern-Funktionär, Spanienkämpe, Chef des DDR-Rundfunks. – Drittens: Ruth Fischer, kurzzeitig Chefin der KPD, später Anti-Stalinistin, 1936 in der UdSSR in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Alle drei waren als Emigranten in den USA, wurden dort 1947 verhört vom Untersuchungsausschuss für unamerikanische Umtriebe, wo Ruth gegen ihre zwei Brüder aussagte. – „In dieser Familie herrschen verwandtschaftliche Beziehungen wie in den Shakespearschen Königsdramen“, rief entgeistert Charlie Chaplin.
Ein Wahnsinnsthema, deutsche Geschichte, ja Weltgeschichte belichtend. In Berlins Deutschem Theater nahmen sich Tom Kühnel und Jürgen Kuttner den Fall Eisler vor; für Richard Nixon der „wohl wichtigste“ der McCarthy-Verhöre. – K&K nannten ihr Projekt „Eine kommunistische Familienaufstellung“ und übertitelten es so hochtrabend wie irrig mit „Eisler on the Beach“.
Doch der eher vage informative Abend hat nichts zu tun mit Robert Wilsons epochaler Performance „Einstein on the Beach“. Und auch nur wenig mit „Familienaufstellung“. Dafür werden übertrieben ausgiebig Verhörzitate (teils über Video-Dokumente) in ihrer absurden Komik ausgebreitet. Ganz schön, ganz lustig, nicht ganz uninformativ. Doch von der shakespeareschen Familiendramatik kaum eine Spur. Dafür immerhin ein feines kleines Konzert mit wehmütigen, ja bitteren Liedern Hanns Eislers, übertrieben schmissig begleitet von der so genannten Bolschewistischen Kurkapelle.
Glanz bekommt der Abend durch sechs grandiose Schauspieler, die das schwierige Geschwister-Trio in jeweils jungem und fortgeschrittenem Alter vorführen. Dazu fallen sie abwechselnd in sanft rotierende Bühnenbilder, die surreale Einsamkeits- und Verlorenheitsbilder des US-Klassikers Edward Hopper imaginieren. Perfekte Technik. Seelische Tiefen aber bleiben in dieser flach dokumentarischen Sache weitgehend unausgelotet. Der breit getretene McCarthy-Blödsinn ist nicht abendfüllend. – Die Eislers in ihren theatralisch scharf ausgeleuchteten, schweren Widersprüchen, das wär’s gewesen! Wer endlich schreibt die Tragödie der drei starken Eislers?

***

Mitte Januar schloss in Basel im wunderschön schlichten, kostbaren Glasgehäuse der Fondation Beyeler (eines der feinsten Kunstmuseen, das ich kenne) die Schau „Auf der Suche nach 0,10. Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“. Sie erinnerte an die just vor einhundert Jahren im Winter 1915/16 im russischen Petrograd in den verwinkelten Räumen einer Privatgalerie arrangierte Ausstellung „Null/Desatch“. Da zeigten 14 Künstler 150 Werke, die sich mit den damals in Europa avantgardistischen Strömungen des Kubismus und Futurismus auseinandersetzten. Von den 150 Werken von damals ist gegenwärtig etwa ein Drittel noch vorhanden und teils verstreut in alle Welt. Das meiste davon lagert jedoch in der Moskauer Tretjakow-Galerie. Der nach dem Tod Lenins einsetzende Stalinismus, der die russischen Avantgardisten hart verfolgte (auch davon war in der Beyerle-Schau ausführlich die Rede), vernichtete die Arbeiten aber nicht wie der deutsche Faschismus es mit als „entartet“ gebrandmarkter Kunst tat, er verbannte sie ins Depot. Gleichwohl gelangte einiges aus privater Hand ins Ausland.
Kasimir Malewitsch war – neben seinem Konkurrenten Wladimir Tatlin – seinerzeit der Star bei „0,10“. Seine total abstrakten Arbeiten galten als Wegweiser für die Weiterentwicklung der Weltkunst. Für seine radikalen Schöpfungen (das „Schwarze Quadrat“ als Ikone der Moderne) erfand er den Begriff „Suprematismus“; abgeleitet von lateinisch „supremus“, das Höchste.
Nun entdeckten, so Zeitungsmeldungen, seltsamerweise erst jetzt, wenige Tage vor Schließung der Basler Ausstellung, Experten, dass am Bildrand vom „Schwarzen Quadrat“ die Inschrift steht „Negerschlägerei in der Nacht“. Und sein „Rotes Quadrat“ von 1915 heißt eigentlich „Malerischer Realismus eines Jungen mit Rucksack – Farbmassen in der vierten Dimension“. Ein weiterer rein abstrakter Malewitsch von 1915 heißt „Malerischer Realismus eines Fußgängers“. Umgekehrt heißen einige figurative Bilder wie das erst nach 1928 entstandene Bild einer Frau mit einer Harke in der Hand „Suprematische Transformation eines Bauernmädchens“.
Bestürzt und heftig abwehrend reagierte die Wissenschaft von den Künsten. Sind doch ganze Bibliotheken gefüllt mit exegetischen Texten über den tiefsten und höchsten Sinn der Malewitsch-Abstraktionen sowie über die sakrosankten Klassiker neuzeitlichen Malens. – Freilich, es war allgemein bekannt, dass K.M. einen ausgeprägten Sinn hatte fürs Groteske und Absurde. Dass er sich aber über seinen Ruhm als extremer Neuerer der Kunst derart lustig machte – und über seine Interpreten dazu, ist ein später Schock für die verzweigte Branche der Theoretiker. Immerhin gibt es jetzt in den einschlägigen Denk- und Schreibstuben viel Neues zu tun; etwa zu rätseln, ob diese Verballhornungen echt seien oder womöglich bösartige Fälschungen. Malewitsch ein visionärer Künstler oder ein durchtriebener Schelm? Wahrscheinlich war er beides! Was seinen Nachruhm gewiss nicht schmälert, im Gegenteil. Und seinen Marktpreis wohl ins Gigantische treibt.

***

O ja! Da frohlockt das Herz, da walzert die Seele. Da gibt‘s was zum Gucken, Staunen, Kichern, Grinsen und zum lauthals Lachen. Die lieben Kleinen („ab vier Jahre“) kreischen vor Vergnügen oder sind ein paar Augenblicke stumm vor Entsetzen – dieser Horror! Doch kein Halten gibt‘s, als dem schnarchenden Wolf der Bauch aufgeschnitten wird mit der großen Pappschere und die alte Großmutter nebst der süßen kleinen Dirn mit dem Käppchen aus rotem Sammet mopsfidel aus dem Wolfsgedärm wieder hervorkriechen.
Was für ein wundersam naives, handfest gezimmertes, dabei feinsinnig angepinseltes (für Kenner des Lebens auch doppelbödiges) Theater gibt es jetzt wie alle Jahre wieder in den beiden aus Ostpolen importierten Märchenhütten „Jacob“ und „Wilhelm“ (Grimm) in einem Winkel vom Monbijou-Park gegenüber dem Berliner Bode-Museum. Da ist es eng, da ist man auf Tuchfühlung mit dem Publikum, das animiert mitspielt. Die Alten lustvoll augenzwinkernd (als schnarchender Wolf), die Gören gebannt mit offenen Mündern und sich die Nase zu haltend, wenn dem bösen Viech der stinkende Bauch aufgeschnippelt wird.
Ja, das ist ganz einfaches, ganz groß urwüchsiges kleines Theater zwischen Tischen und Bänken bei Kakao, Kuchen, Glühwein, Schmalzstulle. Das ist fantasiereiches, improvisierendes Spiel, hin und her turnend zwischen Einfühlung und Verfremdung. Poesie kommt zusammen mit Witz, hingetupfter Melancholie und brüllend komisch-grotesker Blödelei. Je zwei Spieler geben ihrem Affen Zucker (nebst einer Portion ätzenden Pfeffers), schlüpfen in tausend Rollen und bringen pro Vorstellung in jeweils einer halben Stunde zwei Märchen kompakt gerafft aufs Brettel in der Hütt‘n. – Auf diesem Märchen-Boulevard mit Schneiderlein, Schneewittchen, Dornröschen, Drosselbart, Froschkönig, Aschenputtel & Co. geht einem wahrlich das Herz auf!