18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Schon wieder Bocksgesang – oder: Bohrer an die Front!

von Erhard Weinholz

„Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“, heißt es bei Jean Paul. Solche Postsachen können, wie man weiß, vielerlei enthalten: Bitten, Mahnungen, Erinnerungen, Abrechnungen, Appelle und manchmal sogar Kündigungen. Doch sollten sie, so denke ich, unabhängig von ihrem Inhalt immer auch eines sein: Briefe zur Beförderung der Humanität.
Das ist leicht gesagt, doch was darunter zu verstehen ist und wie es sich erreichen lässt, ist, will man es konkreter benennen, schwer zu fassen. Ich will hier nur eine Erfahrung erwähnen, die zu dieser Orientierung nicht so recht zu passen scheint: Lese ich in Klappentexten oder Anzeigen, der neue Prosaband des Autors A. sei ein Plädoyer für Vertrauen und Geduld im Umgang miteinander, während der demnächst erscheinende Roman der Autorin Z. die menschenverachtenden Praktiken des oder der … entlarve, dann verlockt mich das allein nur selten zur Lektüre.
Dem Literaturkritiker Jörg Magenau, einst Redakteur der Wochenzeitung Freitag, mag es ähnlich ergangen sein. Ich vermute es, weil von ihm in der Ausgabe 45/2015 des Blattes unter der Überschrift „Zu gut gemeint“ der Satz zu lesen war, er wisse inzwischen, dass „Kunst nur aus der Absichtslosigkeit heraus entstehen kann …“ Oder zumindest „echte Kunst“, wie es im Untertitel heißt. Woran man diese Absichtslosigkeit erkennt, sagt er uns allerdings nicht – kann er dem Autor vielleicht in den Kopf schauen? Besagter Untertitel schließt mit deutlichen Worten, nämlich: „Mein Abschied von der Gesinnungsästhetik“.
Damit waren, so nehme ich an, noch einige weitere Abschiede fällig: von Heines Deutschland. Ein Wintermärchen zum Beispiel, von Kellers Seldwyla-Geschichten, Heinrich Manns Henri Quatre, Heinrich Bölls Billard um halb zehn … Denn Absichten, politische Absichten sogar waren beim Schreiben dieser Werke zweifellos mit von der Partie. Sicherlich hat Magenau Recht, wenn er schreibt, das Lesen müsse „ein offener Prozess“ bleiben, eine „Erweiterung der eigenen Denk- und Lebensmöglichkeiten“. Denn nur so kann das Humane von Literatur im Geist des Lesers Wirklichkeit werden. Doch das verlangt nicht, dass sie absichtslos entstehen müsste, es verlangt nicht einmal, dass sie um ihrer Freiheit willen, die ja jedwedes Dienen ausschließt, sich vom Politischen fernzuhalten hätte. Selbst wenn sich die Absicht des Autors zu unserem Missfallen zum Erziehungsziel verengt, liegt es immer noch bei uns, ob wir die Schülerrolle annehmen oder nicht. Solche Selbstbestimmung wird umso eher möglich, als sich die Literatur auch durchaus anders als nur dienend mit dem Politischen (zum Beispiel) verbinden kann: im selbstbestimmten Zugriff darauf, der dem Text natürlich anzumerken sein muss.
Die Argumente, die ich hier benenne, sind nicht unbekannt, sie entstammen einer Auseinandersetzung aus den Jahren 1990/91: Vor allem Karlheinz Bohrer vom Merkur, Ulrich Greiner von der Zeit und Frank Schirrmacher von der FAZ fochten damals gegen die sogenannte deutsche Gesinnungsästhetik, die (angeblich bis zu jenen Wendejahren in der Literatur beider deutscher Staaten vorherrschende) Macht der Gesinnung über die Ästhetik. Tatsächlich aber ging es darum, der Literatur nun endlich die linken Flausen auszutreiben, jenes Emanzipatorische, das über das rein Private hinausging. Man kann das vielleicht als – auf deutschem Boden – letzte Phase des Kalten Krieges in der Kunst verstehen.
Ich bin jedoch mit Magenaus Text, der ausdrücklich an Grundansichten Greiners anschließt, noch nicht fertig. Er wird nämlich seiner anfänglichen Forderung, Kunst müsse absichtslos entstehen, zuletzt noch untreu: „Alle großen Debatten, die folgten – Strauß‘ Bocksgesang, Walsers Paulskirchenrede, Handkes Serbienreise – riefen Empörung hervor, weil sie der festverfugten Mehrheitsmeinung widersprachen und auf einem ästhetischen Freiraum beharrten …“ Und weiter: „So wurde eingeübt, dass sich das Schöne dem Opportunen zu fügen hat.“
Doch dieses Opportune, zu dem er deutlich auf Distanz geht, hatte es nicht mit Grundsätzen der Humanität zu tun? Es ist mir so in Erinnerung. Mit den drei genannten Texten aber verbanden sich – ob in jedem Falle tatsächlich oder eher in den Augen des Publikums, sei dahingestellt – Absichten anderer Art: Botho Strauß etwa warb um Verständnis für jene, die bereit sind, für ihr Sittengesetz Blutopfer zu bringen. Doch hier soll auf einmal ein anderes Maß gelten: Nicht Absichtslosigkeit wird verlangt, sondern die Absicht soll uns nicht mehr kümmern, wo Schönheit zu gewinnen ist. Das sei unlogisch? Wohl wahr, und doch hat es seine Logik. Es ist, so scheint mir, die eines rechten Ästhetizismus; Magenau folgt hier allem Anschein nach Bohrer, dem es bei seiner Kritik der Gesinnungsästhetik nämlich keineswegs um eine Kunst um der Kunst willen gegangen war. Bohrer strebte, so Andreas Huyssen, einer der damaligen Kommentatoren dieser Debatte, einfach eine andere Verknüpfung von Ästhetik und Politik an als die zuvor in Ost und West vorherrschende: Mit Nietzsche und Jünger als Leitfiguren sollte die Tradition einer antilinken ästhetischen Moderne an Boden gewinnen. Ob man Magenaus Rückgriff auf die Ansichten Bohrers und anderer als Begleitung jüngster Rechtstendenzen des politischen Denkens (oder Fühlens?) hierzulande werten muss, ist allerdings noch nicht abzuschätzen.
Die emanzipatorische Absicht, welcher Art auch immer, müsste sich in der Literatur eigentlich ebenso von selbst verstehen wie die richtige Kommasetzung; sie bedarf daher keiner lobenden Erwähnung. Den Lobpreis unterdrückerischer Verhältnisse hingegen dürfen wir, auch wenn es Magenau missfällt, getrost als das benennen, was er ist. Auch wenn das Schöne in der Kunst nicht mit dem Humanen identisch ist, sie zu trennen sollten wir keinesfalls versuchen.
Aha, aber haben Dir nicht Trifonovs Studenten, Kaverins Zwei Kapitäne und Rybakovs Menschen am Steuer, alle drei in den frühen Fünfzigern erschienen und mit dem Stalinpreis behaftet, einiges Lesevergnügen bereitet? Und zwar zu einer Zeit, da Dir das Freiheitsfeindliche der Herrschaft in diesem Lande völlig klar war? Stimmt. Ich habe sie aber als Märchen verstanden, denn immer siegte in ihnen das Gute.