18. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2015

Querbeet (LXVI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Öderelbeland, Grebes grelles Halbstadt-Berlin-Biotop und Lumpikow in Moskau …

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Dicke Luft in Öderland. Es gärt im Volk, es motzt: Scheiß Leben, scheiß Regierung, scheiß Staat. Sogar der Staatsanwalt ist gefrustet, schmeißt hin, steigt aus mit einer Axt, hackt sich in die Revolte und findet rasch Gefolgschaft. „Herrlich sind wir und frei!“, schreien sie und stürzen, wild das Beilchen schwingend, ins Chaos. Aber ohne Ordnung kein Leben. Wird nun der Anarcho-Jurist Graf Öderland mit der Axt im Anschlag der neue Machthaber, fragt Max Frisch in seiner zugegeben arg kopfig ertüftelten Moritat „Graf Öderland“.
Das holprige Dialektik-Ding um Freiheit und Verantwortung von 1951 wurde kein Hit, sondern eingelagert. Jetzt hat‘s der Regisseur Volker Lösch fürs Dresdner Staatsschauspiel ausgegraben, versehen mit dem so segensreichen, just aber gerade von „besorgten Bürgern“ in Dresden neu und fluchbeladen herausgebrüllten Motto „Wir sind das Volk“ als Zweittitel – und der ist das Konzept der Show.
Volker Lösch ist der große Schocker unter unseren Spielmeistern, der mit geradezu teuflischer Lust ästhetische Mauern nieder- und alte Stücke aufreißt, um sie vollzustopfen mit möglichst entsetzlichen, zumindest höchst fragwürdigen, aber auch traurigen oder gar tragischen Dokumenten, die er nach fleißiger Feldforschung im Sozialen, Politischen und Moralischen zusammen mit Dramaturgen aus der akuten (nicht nur lokalen) Realität gefiltert hat. Um das Authentische noch zu steigern, lässt er das Kompendium vox populi von einem Laienensemble chorisch von der Rampe schleudern. Denn: Löschs journalistisch geprägtes Aus-, Auf- und Anschrei-Theater soll das Publikum vom Hocker und in den kritischen Diskurs mit sich und seinen Wirklichkeiten stürzen.
Dresden mit seiner schönheitstrunkenen Fassade, hinter der zynischer Demokratie-Abbau und hasserfüllter Feindbildaufbau schwelen, bietet für solcherart Polittheater eine Steilvorlage. Pegida hat das weltberühmte, mit Kunst vollgestopfte Elbflorenz weltberüchtigt gemacht. Und der tollkühne Lösch stellt jetzt das faschistoide Öderland als politikverachtendes, lebensunzufriedenes, fremdenhassendes und zukunftsverängstigtes Pegida-Elbödland rigoros bloß. Doch nicht nur das. Regie und Dramaturgie waren klug genug, mit dokumentierten Aussagen aus der schweigenden, politisch sich wegduckenden, heimlich wutbürgerlichen Mehrheit aufzudecken, was da so an Ressentiment, Angst, Aggression, Hass und Neid herumspukt in den wohlfrisierten Köpfen aller Schichten, Lager, Milieus der Gesellschaft angesichts einer in CDU-SPD-Berlin wie CDU-Dresden diffusen Regierungspolitik, die allzu viele sorgenumwölkte Fragen an die Zukunft feig beiseiteschiebt. Lösch liefert – weit ausholend ‑ ein Zustandsbild von deutschem Geist und Politikverständnis, deutscher Seele und Moral, dass einem angst und bange wird um den Bestand der Demokratie. Viel Stoff zu nachhaltigem Nachdenken, bravourös geformt im wilden Wechsel zwischen rasender Farce, greller Groteske und gellendem Kabarett.
Zum Finale noch ein wuchtiges Menetekel: In der dicken braunen Luft von Öderelbeland eskaliert die Wutbewegung zum Bürgerkrieg. Stehende Ovationen. Dazu die Wutworte von der Rampe: Klatscht euch bloß nicht frei von Verantwortlichkeit! Forscht nach dem korrekt verdrängten Fascho in euch selbst! Werdet wachsam! So viel Imperativ, so viel Agitprop muss mal sein. Von hehrer Kunst hat Dresden allemal im Übermaß, von Zivilcourage eher nicht.

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Eigentlich passt alles prima: Das wie immer großartige Profi-Ensemble der Berliner Schaubühne als komödiantisch starkes Rückgrat der Veranstaltung. Daneben ein Laienchor aus Zeitzeugen, dazu fleißige Geschichtsrecherche, die witzige Details entdeckt, sowie viel flotte Musik. Und: Für die Schaubühne am Kudamm, für diese West-Berliner Theatergründung ein geradezu brennendes Thema: „Westberlin“ (hier in der DDR-offiziellen Schreibweise ohne Bindestrich). – Aus diesem Stoff sollte der kabarettistisch-musikalische Großunterhalter Rainald Grebe eine fürs Heute aufschlussreiche Vergangenheitsshow machen.
Doch sein „Westberlin“-Projekt wurde weder eine schmissige Polit-Revue noch eine den Himmel wie die Hölle dieser sagenhaften Halbstadt schlagend besingende Show. Sondern ein moderat amüsierendes, ausführliches Lehrstück zur Berlin-Geschichte. Vielleicht hatte er allzu viel Zeit für Recherche. Und versank in der Fülle des Materials, anstatt eine eigene Sicht auf dieses kuriose, tragische, grelle W-Berlin mit seinen Großschnauzen, Lebenskünstlern, seinen verlorenen Existenzen, seinen Absahnern, Drückebergern, Glücksuchern, Utopisten und Subventionskönigen griffig zu formulieren. So gibt’s bloß eine schier endlose Typenparade, lustig kostümiert. Doch der wahrlich spektakuläre Zeitgeist aus Frontstadt, Schaufenster, Gewalt von oben und unten, aus Aufbruch ins Utopische, aus selbstgefälliger Einigelei, Glamour, Luxus, viriler Lebensgier und fantastischer Kunstlust und nebenbei elender Trostlosigkeit kommt auf keinen packenden Punkt. Flauer Mischmasch; pässlich für die Volkshochschule. Das immerhin.

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Lumpi ist ein schnöder Köter, der durch Moskaus Straßen streunt. Bis er in die Fänge von Professor Filipp Preobraschenski gerät. Der geniale Chirurg operiert das Tier um zum Menschen, indem er dem Hund Hypophyse und Hoden des verstorbenen Suffkopps Klim Tschugunkin einpflanzt, ein Tunichtgut, der sich mit seiner Balalaika in Kneipen herumtrieb. Klar, dass dieser Neu-Mensch Lumpikow nicht viel besser ist als das Vieh, das er zuvor war. Doch hat er sich einen herrlich gewitzten, scharfen, tierisch nüchternen Blick auf die Verhältnisse der Menschen bewahrt.
Michael Bulgakow schrieb anno 1925 die grandiose Groteske „Hundeherz“. Sie sollte das Dogma von der Erschaffung des sogenannten neuen Menschen durch die Sowjets bloßstellen, greift aber weit darüber hinaus als eine faszinierende, köstlich und grausam aberwitzige, (leider) immergrüne Satire auf unser eher schlimmes, abgründiges Menschsein überhaupt. Alexander Nitzberg, Übersetzer des surrealen Bulgakow-Klassikers „Meister und Margarita“, hat auch „Hundeherz“ ins Deutsche übertragen; doch es heißt jetzt weitaus sarkastischer „Hündisches Herz“ (und aus dem Hund Bello wurde ein Lumpi und mithin sprachlich griffiger ein Lumpikow). Und was da erst Lumpi, dann Lumpikow so alles treiben, erleben, beobachten, bringt der große Schauspieler Ulrich Matthes mit hinreißend sprachlicher Virtuosität in unsere Gehörgänge und Gehirnwindungen. Ein unglaublich spannendes und amüsantes, unseren Alltag, ja unser Dasein erhellendes Erlebnis. Geschlagene 268 Minuten lang. Durch das Hörbuch mit vier CDs aus dem Sinus Verlag für 39,80 Euro. Wer noch kein rechtes Weihnachtsgeschenk hat, nun aber los! – Und: Allen ein frohes Fest!