18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Zeit, mal wieder aufzustehen?

von Ina Raki

Ob hoffnungs- oder angstvoll – viele Menschen in Deutschland vermuten, dass wir vor einem gesellschaftlichen Umbruch stehen. So viel Unzufriedenheit und Unsicherheit. So viel Kontrast zwischen Meinungen. So viel Ängste, deren Gründe man nicht benennen kann. Doch wohin würde ein Umbruch uns führen?
Ich war 21 Jahre alt, als sich in meinem damaligen Heimatland ein Widerstand formierte, der alles bis dahin dort Dagewesene übertraf: So viele, die gleichzeitig aufstanden. Ein Risiko in Kauf nahmen, das hier und heute für zahlreiche Menschen kaum vorstellbar ist. Es folgte ein Umsturz. Anders, als die meisten anfangs vermutet hatten. Anders, als viele von denen, die mit dem größten Risiko gleich am Anfang auf der Straße waren, es gehofft hatten. Ein reformiertes, freies Land war deren Ziel gewesen. Freiheit im Denken, Reden, Tun… Aus einem Widerstand wurde ein übernommenes Land. Die vorher bemängelten Probleme wurden gelöst. Durch andere ersetzt. Diesen zweiten Teil hatten wir nicht geplant. Oder zumindest: nicht bedacht.
Seither schien Deutschland recht träge. Es gab so viel in den letzten 25 Jahren, das uns alle hätte aus den Fernsehsesseln und unseren gemütlichen Ecken treiben müssen. Aber nichts geschah. Nicht viel zumindest. Mich bewegte seit längerem die Frage: Warum konnten wir uns damals wehren, obwohl die Chancen so winzig schienen – und dümpelten dann tatenlos umher im relativ sicheren Alltag zwischen so vielem, was hätte verändert werden müssen? Würden wir erst aufwachen, wenn das Offensichtliche uns schließlich überholt hatte und wir wieder vor und an Mauern stehen würden?
Mich interessierte, wie es anderen Menschen aus der DDR gegangen war. Deshalb begann ich, mit verschiedenen Frauen zu sprechen, die einen Bezug zur DDR, zur Wende hatten – sei es durch eigenes Erleben, sei es nur dadurch, dass sie in eine DDR-Familie geboren worden waren, womöglich auch erst in den letzten Jahren oder Monaten des untergehenden Landes. Ein Interviewband entstand dabei. Er enthält Gespräche mit 18 Frauen, die ihre Erinnerungen und ihren Bezug zur früheren DDR und zur Wende reflektieren und sich über die Frage Gedanken machen: Gälte es heute eine Revolution anzuzetteln, wofür würdest du dich erheben?
Immer wieder stieß ich in den Gesprächen auf die mir wohlbekannte Ambivalenz: Die meisten Frauen, mit denen ich sprach, hatten die Wende als Wunder erlebt. Die nachfolgende turbulente Zeit des „Alles-neu“ und atemlosen Überrollens – vor allem als Enttäuschung. Viele haben dennoch die Möglichkeiten genutzt, die sie unerwartet bekamen oder die sie sich aus einer Situation bastelten, die andere kaum als Chance wahrgenommen hätten.
Und nun? Seit 25 Jahren sind wir offiziell ein einig Deutschland. Ossis, Wessis – gibt’s die noch? Oder sind das überholte Begriffe, nicht mehr relevant? Immer mehr Deutsche glauben Letzteres. Interessant, aber nicht überraschend: die im Westen lebenden mehr als die im Osten – für zwei Drittel der Menschen in Westdeutschland sind die Probleme der Wiedervereinigung weitgehend gelöst, im Ostteil des Landes sieht das nur etwa die Hälfte der Menschen so.
Im Grunde nicht überraschend: Für wenige Westdeutsche waren vor einem Vierteljahrhundert Wende und Wiedervereinigung so relevant wie für nahezu alle im Osten Deutschlands geborenen Menschen. Die Relevanz setzt sich fort: Noch immer gibt es beispielsweise einen gravierenden Einkommensunterschied zwischen Ost und West. Verräterisch auch die Begrifflichkeiten: Während eine „ehemalige DDR“ unterging, musste von einer „ehemaligen BRD“ nie die Rede sein. Sie hatte tatsächlich nicht einmal den Namen geändert, die BRD, als sie sich da ein Stück anderes Land einverleibte, das in mancher Hinsicht wie das Stück Sahnetorte war, dessen Genuss man im Nachhinein bedauert: Kurzfristig lecker, dieses große Stück unberührter Märkte, ein Abräumen, Freudentaumel gratis… Langfristig hat dieser leergefressene Teil Deutschland doch einiges Bauchweh bereitet.
Auch das ist ein Effekt, der heute wie damals allgegenwärtig scheint: Erwartbare Probleme haben sich nicht von allein gelöst – obwohl wir sie doch so standhaft ignoriert haben! Eine Tatsache, die deutsche Politiker immer wieder einmal erstaunt: Wegsehen löst nichts. Gestern eine Übernahme ohne langfristigen Plan, heute eine endlos ignorierte Migrationsbewegung…
Es wäre so wichtig, dass man Menschen eine Chance zur Integration in ein bestehendes System und dennoch ihre Identität lässt, das ist vielen DDR-Menschen aus eigenem Erleben bekannt. Dass manche Menschen mit einer DDR-Historie auch heute noch nicht in einer gesamtdeutschen Identität angekommen sind, ist ein deutliches Signal, wie langfristig es nachwirkt, dieses Ignorieren des Offensichtlichen.
Ebenso ist der Umgang mit Flüchtlingen von Seiten der Politik geprägt von einem schmerzhaft langen Ignorieren. Dann einem wilden Zickzackkurs beim Versuch einer oberflächlichen Schadensbegrenzung. Und immer wieder tauchen Ideen auf, die Offensichtliches schlicht ausblenden. Als wäre es verhandelbar, dass Menschen kommen. Dass viele von ihnen hier bleiben werden. Dass wir nur miteinander leben können. Dass Menschen, die Mauern und Zäune überwinden, von etwas getrieben werden, das nicht zu ignorieren ist und auch nicht zu „lösen“ durch Abschreckungsmaßnahmen, die sich satte Leute ausdenken, die nicht teilen wollen.
Ich weiß nicht, ob mich das hektische Präsentieren unverständlicher Scheinlösungen und die landesweite Selbstsabotage stärker an die Zeit einer DDR oder doch mehr an die offensichtlichen Ungerechtigkeiten einer Nachwendezeit erinnern. Sicher erscheint mir nur: Wenn wir weiter ohne Strategie und ohne Menschlichkeit durch diese Zeit gehen, wird uns das in Jahrzehnten noch Probleme bereiten.
Was bleibt unterm Strich?
Die Frage, warum wir Fehler so beharrlich wiederholen: kurzfristige Scheinlösungen suchen, obwohl das langfristige Problem dahinter so offensichtlich ist. Die Hoffnung, das zu erkennen und es endlich besser hinzubekommen. Dafür sollten wir einen Blick zurück werfen. Nachdenken. Dann losgehen und etwas tun. Vielleicht mal etwas Neues.

Ina Raki wurde 1968 in Sachsen geboren, studierte 1985 bis 1989 in Leipzig, zog 1991 nach Oberbayern. Nach weiterer Ausbildung seit 1994 ist sie beruflich im Verlags- und Medienbereich tätig als Autorin, Schreibberaterin und Lektorin. Ihr Buch „Wendepunkt“ erschien im NEPA Verlag 2015 (317 Seiten, 19,95 Euro).