18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Vernunft versus Verstand

von Ulrich Busch

Ganz erstaunlich, ja geradezu umwerfend ist, dass es so etwas wie das hier zu rezensierende Buch heutzutage überhaupt noch gibt – in einer Zeit, in der Arbeitsteilung und Spezialisierung nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Wissenschaft entscheidend geprägt haben und wo der Blick auf das Große und Ganze faktisch fehlt. Das Buch „Deutsche Vernunft und angelsächsischer Verstand“, verfasst von dem Weimarer Theologen, Philosophen und Ex-Politiker Edelbert Richter, stellt den grandiosen Versuch dar, eine Universalgeschichte des Geistes in Europa seit dem 16. Jahrhundert zu schreiben.
Natur- und Gesellschaftstheorie finden darin gleichermaßen Berücksichtigung wie Religion und Politik. Und dieser Versuch ist keineswegs misslungen. Trotz der enormen Breite und thematischen Fülle hat sich der Autor nicht verzettelt, sondern folgt er strikt seinen Überzeugungen und einigen zu Beginn des Buches formulierten Hypothesen. Diese sind originell und alles andere als dogmatisch, also durchaus einer Lektüre wert, mitunter auch eines wissenschaftlichen Disputs.
Die Hauptthese des Autors besagt, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Verbindung mit bestimmten Gesellschaftstheorien jeweils die Grundlage für das naturwissenschaftliche Denken einer Epoche bilden. Dies wird dann durchdekliniert, zum Beispiel anhand des Merkantilismus und der Theorien von Bacon, Descartes und Hobbes bis zu Smith und Malthus einerseits und der Physik Newtons andererseits. Von besonderer Überzeugungskraft ist dabei die Parallele zwischen der im 17. Jahrhundert aufkommenden Geldökonomie und dem mechanistischen Weltbild des neuzeitlichen Rationalismus. Die den Überlegungen des Autors zugrunde liegende gedankliche Konstruktion wird sodann fortgeführt bis zum British Commonwealth, zu Nietzsche und Darwin, und dann weiter bis zum Imperialismus, zu Einstein, Planck und Heisenberg, zur Weltwirtschaftskrise, zum New Deal und zu John Maynard Keynes.
Dabei zieht sich als „roter Faden“ nicht nur die Beweisführung für diese Determinationsthese durch den Text, sondern auch die Gegenüberstellung von deutscher Vernunft als Wissen und angelsächsischem Verstand als Ausdruck bloßer Information. Hinter den Begriffen macht der Autor tiefer liegende, jeweils im Wesen und in der Geschichte der Nationen verortete Unterschiede aus, die heute hochgradig politikrelevant sind. Ein Schlüsselbegriff dafür ist die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens und der Lebensweise – ein Terminus, der nicht zufällig aus der deutschen Forstwirtschaft stammt, während im Angelsächsischen mehr von Effizienz und Rentabilität die Rede ist. Der Autor interpretiert die Tatsache, dass in der deutschen Sprache zwischen Verstand und Vernunft kritisch unterschieden wird, während andere Sprachen diesen Unterschied so nicht kennen, als ein „Anzeichen dafür“, dass die Deutschen so etwas wie ein „ökologisches Bewusstsein“ besitzen, während andere Nationen dieses eben nicht haben. Dies ist eine weitreichende Hypothese, die sich an vielen Stellen im Buch wiederfindet und zahlreiche Belege evoziert, aber nur schwer zu beweisen ist.
Durch die Gegenüberstellung und Entgegensetzung bestimmter Denkansätze, Theorien und Konzepte vermag der Autor zu zeigen, dass seine Ansicht keineswegs aus der Luft gegriffen ist. Vielmehr lässt die Lektüre nach und nach erkennen, dass und vor allem wodurch sich die deutsche konfessionelle und philosophische Tradition in Hinblick auf das Naturverständnis und das ökologische Gewissen von der angelsächsischen Tradition unterscheidet. Eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext die deutsche Romantik, die ja viel mehr war als Musik, Poesie und Forstwirtschaft und die bis heute das deutsche Verhältnis zur Umwelt, zum Wald, zu den Bergen und zur Landschaft, prägt.
Richter bleibt aber nicht bei dieser Feststellung stehen, sondern versucht die gesamte Geistesgeschichte, einschließlich der naturwissenschaftlichen Forschung, in sein Schema einzupassen. So wird Martin Luther Johannes Calvin entgegengesetzt, Jacob Böhme Francis Bacon und Gottfried Wilhelm Leibniz John Locke. Dies mutet genial an, stößt aber, wie jede Schematisierung, bald auch auf Grenzen. So fällt auf, dass in dem Buch zwar sehr viele Namen bedeutender Forscher genannt werden, einige aber auch fehlen oder nur am Rande vorkommen. Dies gilt zum Beispiel für Hegel, Feuerbach und Marx, die wohl nicht so richtig in das Schema gepasst haben, aber auch für C. Wolff, John Law, David Hume, J. St. Mill, Alfred Marshall sowie Karl Menger, Gauß und andere.
Den größten Widerspruch werden vermutlich die Thesen des Autors zu Charles Darwin hervorrufen, gilt dieser doch geradezu als Prototyp eines untadeligen Wissenschaftlers. Richter stellt ihn in eine Beziehung zum Britischen Empire und behandelt sein Hauptwerk von 1859 als Ausdruck der Vorherrschaft Großbritanniens in der Welt und als Beleg für den Sieg der „mechanistischen Denkweise“ in den Naturwissenshaften. Zwei Seiten weiter ist er dann aber bereits beim Sozialdarwinismus und behauptet, dass „das Bild“, das Darwin in seinem epochalen Werk von der Natur entworfen hat, einem ganz bestimmten „Bild von der Gesellschaft“ entstammt, nämlich dem von Thomas Robert Malthus in seinem Essay über das Bevölkerungsgesetz (1798) beschriebenen. Deshalb handele es sich, so Richter, beim Sozialdarwinismus um nichts anderes als „die Rückübertragung jenes Bildes auf die Gesellschaft“, das die Naturwissenschaft zuvor von ihr übernommen habe. Darwins Theorie sei deshalb letztlich kein Abbild der Natur, sondern deren „Konstruktion“.
Es ist kein Mangel darin zu erblicken, dass ein Buch auch strittige Positionen enthält und zur Diskussion herausfordert. Ganz im Gegenteil! Es sei sogar die These gewagt, dass jeder Leser, der sich der Mühe unterzieht, das vorliegende Buch komplett durchzuarbeiten, viel lernt und sein Wissen um einiges vergrößern wird. Die Differenzpunkte, die dabei sichtbar werden, sind Merkpunkte, woran man sich abarbeiten kann, um schließlich der Wahrheit ein Stück näher zu kommen.
Macht man sich die Ausgangsüberlegung des Autors zu eigen und folgt der These, dass die Welt heute durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Verfahren bedroht sei, so muss man auch der Schlussfolgerung zustimmen, dass eine Wissenschaft, „die die Interessen nicht durchschaut, von denen sie getrieben wird, und die gefährlichen Folgen nicht bedenkt, die sie womöglich zeitigen wird, nicht vernünftig genannt werden“ kann. Gleichwohl sollen die Leistungen des „fehlgeleiteten oder orientierungslosen Verstandes“ nicht geschmälert werden. „Die Disproportion zwischen Verstand und Vernunft“, so Richter, „ist das Problem.“ Um dies zu begründen werden Immanuel Kant, Plato und andere Größen der Geistesgeschichte bemüht – mitunter hätte ein aktuelles Beispiel aus Wirtschaft und Politik besser gepasst, vielleicht hätte dadurch die Argumentationskraft gewonnen.

Edelbert Richter: Deutsche Vernunft – angelsächsischer Verstand. Intime Beziehungen zwischen Geistes- und Politikgeschichte. Logos Verlag Berlin, 368 Seiten, 29,00 Euro.