18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Querbeet (LXIV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Gottsucher, Gerechtigkeitskrieger, Freiheitsfanatiker, alte Nazis, neue Stalinisten…

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Wenn einer aus 1200 Druckseiten Weltliteratur knapp sechs Stunden Theater macht (plus Pause), dann ist das eigentlich nicht zu lang. Es sei denn, man insistiert auf eine der vielerorts üblichen Zwei-Stunden-Sprechblasen-Kurzfassung (ohne Pause).
Doch auf so was lässt sich Frank Castorf natürlich gar nicht erst ein. Wenn der Theater macht, hat er Existenzielles im Kopf, Menschheitliches. Mithin das ewig grauenvolle Chaos im Schlachthaus Welt, verbunden mit der ewig bohrenden Frage, warum das noch immer so ist und ob das so bleiben wird womöglich bis in alle Ewigkeit.
Antworten auf derartige Fragen gibt es reichlich. Doch mit der praktischen Verbesserung der desaströsen Lage der Welt nebst ihrer Bewohner hapert es mächtig. Grund genug fürs Castorf-Theater, die derart unzulänglichen, ja mörderischen Welt- und Menschenverhältnisse immer wieder und in welcher Kostümierung auch immer fragend vor uns auszubreiten in all seinen Facetten. Und spielerisch, also kunstvoll zum Kochen zu bringen. Das kann nicht gehen ohne beträchtliche Anstrengungen sowohl der Spieler als auch der Zuschauer. Und  das geht schon gar nicht eins, drei, fix (sechs Stunden!). Erst recht, wenn sich Frank Castorf für seine komplexe Denk- und hochartistische Spielbühne Fjodor M. Dostojewskij zur Vorlage nimmt. Er tat es bislang mit dessen Werken „Dämonen“, „Der Idiot“, „Schuld und Sühne“. Und jetzt mit „Die Brüder Karamasow“.
Um es gleich zu sagen: Die von sexuellen und sonstigen Obsessionen (darunter auch von Liebe) durchsetzte Vatermordsgeschichte aus dem alten Russland ist allein schon spannend durchs ungeheuerlich Menschelnde. Da hat‘s toll was zu spielen fürs Castorf-Ensemble! Zugleich aber ist sie aufregend durch ihre philosophischen Aufladungen. Da nämlich kracht weltanschaulich total Gegensätzliches aufeinander: Einerseits Aufklärung und Emanzipation bis hin zu dem von allen moralischen Klammern befreiten Prinzip „Alles ist erlaubt“, das, wir erleben es immer wieder, in (massen)mörderischer Auslöschung gipfelt; anderseits Religion und Demut, die Unterordnung unter die Kirche, die den Menschen bindet durch ihre Kräfte, Wunder, Geheimnis, Autorität. Hier also Liberalität, dort Orthodoxie. Ein Systemclash, brennend aktuell und mithin ein klassischer Castorf-Stoff. Wie auch dieser Dostojewskij-Satz „Noch nie gab es etwas Unerträglicheres für den Menschen als die Freiheit.“
Er zieht sich gleichsam als Motto durch dieses Sechs-Stunden-Castorf-Karamasow-Spektakel, das der Regisseur aus der monumentalen, von der großen Swetlana Geier übersetzten Vorlage formte, die eben zweierlei ist: ein glühender Roman der Leidenschaften, ein kühles Argumentationsbuch.
Freilich, man muss sich einlassen wollen auf diesen Mix. Dann wirkt er nachhaltend. Zugegeben, eine Stunde selbstverliebtes Regie-Karacho hätte man streichen, den Großteil des hysterischen Figuren-Geschreis hätte man dämpfen können. Dafür darf man Castorfs einzigartige Kunst der szenischen Übergänge bewundern – und sein Höchstform-Ensemble, nahezu beständig (allzu beständig) unter dampfendem Hochdruck. Da hat ein jeder wenigstens eine unvergessliche Nummer. Großes Kino. Denn über sehr weite Strecken wird via Video erzählt; doch weitaus intensiver als je zuvor. Castorf hat sich mittlerweile als Filmregisseur perfektioniert; die Kamerateams bleiben durchweg unsichtbar, umso suggestiver die Bilder, der Ausdruck der Spieler.
Nun endlich aber und als Schlusswort dieser im Körperlichen vehementen, im Geistigen faszinierenden Produktion: Ihr optisch fantastischer Rahmen, die letzte tollkühne Arbeit des Bühnenbildners Bert Neumann vor seinem frühen Tod. Mutig und ohne Rücksicht auf hohe Kosten hat er die Volksbühne umgerüstet in einen riesigen, bis an die Decke pechschwarz schillernden Dunkelraum. Eine unheimliche Trauerhalle, ein geheimnisvolles Großgrab. Dostojewskij-Atmosphäre! Die Bestuhlung ist entfernt, das ansteigende Parkett ausgelegt mit einer Art Asphaltdecke. Das Publikum lümmelt auf Sitzsäcken; orthopädisch unkorrekt, doch für Bandscheibengeschädigte stehen am Rand von Saal und Bühne noch ein paar Stühlchen. Im Bühnenhintergrund und an der einen Saalseite hübsch russisches Ambiente: Datsche, Gartenlaube, Ententeich, Bretterschuppen, Brettersauna. An der Saalrückwand (überm ehemals zweiten Rang) eine irrlichternde Kola-Reklame. Das optische Signal vom Heute. Es korrespondiert mit den Einschüben von Passagen aus „Exodus“ des zeitgenössischen Moskauer Autors Pjotr Silajew. Er nennt sich DJ Stalingrad, was genau auf seine Texte passt. Sie belichten grell den kriegerischen, nihilistisch oder nationalistisch-faschistoid geprägten Zustand einer hemmungslos lebensgierigen, orientierungslosen Jugend im postsowjetischen Turbokapitalismus, die Stalinbilder herumträgt und dabei Christuskreuze küsst.
Ein freilich böser und zermürbender, doch bei all seinen wütenden Entsetzlichkeiten, seinen Schrecken und Ängsten, seinen grotesk-komischen oder nach Liebe lechzenden Momenten ein wiederum vertrackt poetischer Abend. Voll von Blut, Schweiß, Tränen – Mitleid und Gedankenschwere. – Glauben an die Freiheit? Glauben an Gott? Glauben an den Menschen? Gewiss aber ist nur der Tod. Ein Menschenspektakel. Eine Schlacht, zuweilen gar eine elende Schlammschlacht der Ideen und Möglichkeiten. Ihr Ausgang: offen.

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Es wurde alsbald schon nach seinem Erscheinen 1968 quasi zum Handbuch der Erinnerung an die Schuld der Deutschen im NS-Staat: nämlich „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz (1926-2014), der als blutjunger Nazi und Marinesoldat die Versenkung seines Kriegsschiffs überlebte, dann desertierte, sich in den dänischen Wäldern versteckte in der beständigen Angst, entdeckt und von den eigenen Leuten erschossen zu werden. „Deutschstunde“ handelt von Entmenschlichung durch fanatisches Festhalten an einem fatalen Begriff von Treue und Pflichterfüllung, die das demagogisch „von oben“ auferlegte, als normal und rechtens geltende „dienstliche“ Ausüben von Verbrechen einschloss. Der Roman bringt das zentrale Thema deutscher Nachkriegsliteratur auf den Punkt: Die so grauenhaft folgenreiche Verquickung von Pflicht und Schuld; demonstriert am Beispiel des Dorfpolizisten Jepsen, der auf Deutschlands nördlichstem Posten bis zum Kriegsende ‘45 stur seines Amtes waltet – mit grauenvollen Konsequenzen.
Das Buch fand Millionen Leser, wurde Schullektüre und alsbald ein Klassiker bezüglich der packenden Beschreibung der entsetzlichen Seite des deutschen Wesens. Jetzt hat ihn der Dramatiker Christoph Hein fürs Theater eingerichtet, und Regisseur Philip Tiedemann inszenierte ihn mit viel Fantasie fürs Poetische sowie feinen Sinn für Komisch-Groteskes auf der BE-Probebühne. Das gerade in seinem Minimalismus so expressive Kammerspiel stützt sich ganz auf die atemberaubende spielerische Intensität des Ensembles. Die Konflikte zwischen den Figuren des Nordsee-Nests, ausgelöst von Jepsens Gesinnungsterror, seinem wahnhaft verinnerlichten Gehorsam-Fanatismus, entwickeln sich ganz lapidar aus der „Ordnung“ des NS-Alltags heraus ins Unheimlich-Unmenschliche und Gewalttätige, das jeden Ordnungsstörer korrekt ans tödliche Messer liefert. Eine höchst nachdenklich stimmende Aufführung; das Publikum folgt ihr gebannt.