18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Europäische Friedenspolitik: Offene Fragen

von Karsten D. Voigt

Den Aufruf der „Viererbande“ unterstütze ich genauso wie Wolfgang Schwarz. Das Ziel der nuklearen Abrüstung, die Forderung, in der Politik gegenüber Russland an den Harmel-Bericht von 1967, die Schlussakte von Helsinki von 1975 und die Charta von Paris von 1990 anzuknüpfen, bleibt richtig. Aber die „Viererbande“ setzt sich zu wenig mit den neuen Herausforderungen für die deutsche Russlandpolitik auseinander. Sie sind die Konsequenz von Änderungen der russischen Politik und der tiefen Krise in den Beziehungen des Westens zu Russland. Diese neuen Probleme sollten kein Anlass dafür sein, die alten Ziele aufzugeben. Aber sie zwingen dazu, zusätzlich Lösungen für die neuen Probleme, die sich gegenüber den Zeiten der Entspannungspolitik geändert haben, zu entwickeln.
Militärisch: Das Gleichgewicht zwischen Russland und den USA besteht nur noch im Bereich der nuklearen Waffen. Die USA allein und erst recht der Westen insgesamt sind ansonsten Russland militärisch überlegen. Aus russischer Sicht ist es deshalb rational, wenn es jetzt nicht mehr zu weiteren nuklearen Abrüstungsschritten bereit ist. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich der nuklearen Gefechtsfeld-Waffen. Hier ist ein russisches Interesse erkennbar, ihre Überlegenheit in diesem Bereich zu erhalten.
Nach dem Georgien-Krieg haben die Russen ihre konventionellen Streitkräfte verringert, modernisiert und in Bezug auf ihr Einsatzspektrum verändert. Dieser Prozess ist noch nicht völlig abgeschlossen. Es ist aber erkennbar, dass sie – in vielen Bereichen ähnlich wie die USA – sich auf die Entwicklung kleinerer, sehr mobiler und gleichzeitig schlagkräftiger Einheiten konzentrieren. Während des Konfliktes auf der Krim und in der Ost-Ukraine und jetzt in Syrien sind diese neuen militärischen Fähigkeiten eingesetzt worden. In der geografischen Nachbarschaft der baltischen Staaten wurde der Einsatz derartiger Einheiten in Manövern geübt.
Schon während des Ukraine-Konfliktes, erst recht aber jetzt beim Einsatz in Syrien zeigt sich, dass die russische Führung heute bereit ist, größere politische und militärische Risiken einzugehen als in den vorausgegangenen Jahren. Die Sowjetunion wollte zu Zeiten der Entspannungspolitik ihre Grenzen und ihren Einfluss absichern. Sie war insofern eine am status quo orientierte Großmacht. Anders Russland heute: Es will seinen nach dem Zerfall der Sowjetunion verlorenen Einfluss teilweise wiedergewinnen. Die russische Welt endet für Putin nicht an den Grenzen Russlands. Ich habe dafür Verständnis. Aber wegen der negativen Konsequenzen dieser Sichtweise erfüllt sie mich mit großer Sorge. Die Politik Putins führt dazu, dass mehrere der Nachbarn Russlands es als eine revisionistische Macht wahrnehmen und fürchten. Wie soll unter diesen Bedingungen eine gesamteuropäische Friedensordnung entstehen?
Die geltenden rüstungskontrollpolitischen Vereinbarungen konzentrieren sich auf die Einhegung der Risiken bei einem großen Konflikt zwischen Ost und West. Sie berühren die neuen Szenarien kaum. Deshalb brauchen wir neue Vereinbarungen, die den neuen Risiken entgegen wirken. Die amerikanisch-russischen Vereinbarungen über die Vermeidung von militärischen Zwischenfällen während des Einsatzes ihrer Luftstreitkräfte in Syrien sind ein kleiner Schritt in diese Richtung.
Während der Westen insgesamt gesehen überlegen ist, ist er lokal unterlegen. Die baltischen Staaten fürchten nun, dass bei bestehendem nuklearen Gleichgewicht ihr Schutz vor kleineren konventionellen Angriffen nur gewährleistet ist, wenn dort auch die Truppen anderer NATO-Staaten stationiert werden. Sie berufen sich dabei auf die Situation West-Berlins zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes. Der Wunsch der baltischen Staaten ist aus ihrer Sicht verständlich. Aber wenn er erfüllt würde, würde dies zu zusätzlichen Spannungen mit Russland führen. Wie reagiert werden sollte, wird zurzeit in der NATO kontrovers diskutiert.
Politisch/militärisch: Russland hat bisher keine militärische Gewalt gegen NATO-Mitglieder eingesetzt. Anders als die Balten dies befürchten, halte ich es auch weiterhin für sehr unwahrscheinlich, dass Russland künftig irgendein NATO-Mitglied angreifen würde. Aber Russland hat die Grenzen von Georgien und der Ukraine mit militärischen Mitteln verändert. Das widerspricht der „Charta von Paris“ und internationalen Grenzgarantien. Georgien und die Ukraine gehören keinem Bündnis an. Die deutsche Politik ist gegen die Aufnahme dieser beiden Staaten in die NATO. Aber ist es nicht verständlich, dass inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung in Georgien und der Ukraine für einen NATO-Beitritt ist?
Die „Viererbande“ schlägt ebenso wie Kissinger eine „konsolidierte Neutralität“ für die Ukraine vor. Laut der „Charta von Paris“, die auch Russland unterschrieben hat, kann jedes europäische Land selber entscheiden, welchen sicherheitspolitischen Status es anstrebt. Dies verbietet eine Neutralitätsregelung für die Ukraine gegen ihren Willen.
Politisch: Die „Viererbande“ plädiert für eine „Entideologisierung von Konflikten“. Dafür bin ich auch. Ist dies in Bezug auf die Ukraine aber realistisch? Lassen sich dort geostrategische Fragen von den Fragen der gesellschaftspolitischen Orientierung trennen? Präsident Putin sieht in den „farbigen Revolutionen“ eine gegen die Interessen Russlands gerichtete Strategie des Westens und insbesondere der USA. Das ist eine grundlegend veränderte Einschätzung gegenüber der der russischen Führungen in den Jahren nach 1990. Die EU hat meiner Meinung nach in den vergangenen Jahren die strategische Bedeutung dieser veränderten russischen Sichtweise völlig unterschätzt. Sollte sie deshalb auf die Assoziationsverträge mit der Ukraine, Georgien und Moldawien verzichten? Meiner Meinung nach nicht. Aber sie sollte durch ein Angebot der Zusammenarbeit mit der Eurasischen Union diesen Konflikt zu entschärfen versuchen.
Dies ist nur ein Hinweis auf einige der neuen Fragen, auf die wir Antworten finden müssen, wenn wir wollen, dass die gegenwärtigen Konflikte mit Russland eingehegt werden und das darauf aufbauend schrittweise die gegenwärtig blockierte Perspektive für eine Europäische Friedensordnung wieder geöffnet wird.