18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Von Übeln und – welchem?

von Herbert Bertsch

Anspruchsvoll meine ich, eine Tagesbilanz des gegenwärtigen Hauptthemas ähnlich dem aufstellen zu können, wie es heute, am 8. September, bei nt-v online Herr Weimer getan hat, mit dem dräuenden Titel „Der Bösewicht, der recht behalten könnte“. Warum dann nicht einfach mit geringerem Aufwand zitieren, wenn schon was vorliegt?
„Brüssel versucht mit seinen Attacken auf die ungarische Politik auch davon abzulenken, dass in der EU-Migrationspolitik derzeit alles falsch läuft, was falsch laufen kann. Weder gibt es eine gemeinsame Strategie noch eine gemeinsame Haltung noch plausible Lösungswege. […] Die Realität hebt damit die bestehende Rechtslage (vom Dublin-Abkommen bis zu den Schengen-Regeln) völlig aus den Angeln. Und Orban deckt diese Defizite im EU-Chaos-System brachial auf – und zwar perfiderweise, indem er just auf Einhaltung der Abkommen, also des europäischen Rechts besteht.“ Offenbar haben wir es hier mit einer Kette, auch Verkettung von Übeln in der Sache sowie mit und bei Personen zu tun. Sind das Zufälligkeiten oder Folge von dazu gleichsam erklärten Erbübeln, diesmal in der internationalen Politik? Ursachen gibt’s immer – wenngleich diese jeweils häufig umstritten.
Hier liegt etwa zeitgleich zu unserer Einleitung ein handfestes Buch vor: „Triumph der moralischen Revolution“. Mit diesem Titel als Diktum, ohne Fragezeichen. Möglicherweise spielte bei dieser Auswahl der Umstand mit, dass es bereits einen Roman gibt: „Die menschliche Revolution“. Die Textgestalter und Verkünder des Sachverhalts sind Michail Gorbatschow und Daisaku Ikeda, von Herder aktuell auf den Markt gebracht. „Die menschliche Revolution“ stammt von Ikeda. Die „moralische“ wird hier nun gemeinsam postuliert. Als Anleitung zur Überwindung von Erbübeln der Gesellschaft oder als eine Bilanz, der zufolge dies bereits, zumindest teilweise, erreicht sei?
Beide sind renommierte Autoren für höhere Ansprüche, gefragte Gesprächspartner und Selbstvermarkter mit eigener Stiftung – nicht nur, aber auch für diesen Zweck. Der von beiden autorisierte Klappentext erspart hier eine eigene Vorstellung der Prätendenten: „Anfang der 1990er begegneten sich zwei Menschen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten: Michail Gorbatschow, ein marxistischer Politiker, und Daisaku Ikeda, ein buddhistischer Philosoph und Friedensaktivist. Es kommt zu weiteren Treffen, die beiden werden Freunde. Sie ziehen Bilanz aus dem gewalttätigen 20. Jahrhundert mit seinen Totalitarismen. Während dessen ist die Welt im Umbruch, die Sowjetunion löst sich auf. Ihr Erfahrungsaustausch ist getrieben von einem gemeinsamen Ziel: Die Grundlagen schaffen für einen universalen Humanismus, der in eine bessere Zukunft weist.“
Die Texte haben ihre eigenwillige, auch vom Verlag gelenkte Geschichte. Die Gesprächs-Aufzeichnungen, Gorbatschow wird befragt von Ikeda, stammen eigentlich schon von der Jahrtausendwende, sind auch schon früher veröffentlicht. Warum diese Reprise? Vielleicht erschließt sich dies vermittels des aktuellem Vorworts der Autoren, wo es heißt: „Viele der drängendsten Probleme, denen die früheren kommunistischen Gesellschaften gegenüber standen, bestehen auch heute noch. Ihrer Lösung werden wir nur dadurch näherkommen, dass wir das politische und geistige Erbe jenes Neuen Denkens bewahren, das die Reformen und Erneuerungen der sogenannten Perestroika eingeleitet und dann schließlich dem Kalten Krieg ein Ende gesetzt hat. […] Trotzdem sind wir überzeugt, dass es an der Zeit ist, einen breiten globalen Dialog darüber zu führen, was wir zum einen aus den Lektionen des 20. Jahrhunderts lernen können und was zum anderen das Wesen eines neuen Humanismus und eines neuen Wertesystems kennzeichnen muß, damit die Menschheit die Prüfungen des neuen, postkommunistischen Zeitalters bestehen kann.“ Die Perestroika war also eigentlich die moralische Revolution.
Der erfolgreiche Ansatz dazu – Gorbatschow dies ausführlich meditierend, von beiden sehr lesenswert mit höchstpersönlichen Befindlichkeiten angereichert – war seine auch ganz persönliche historische Mission, den Kommunismus als gleichsam fleischgewordene politische Praxis in der Sowjetunion und andere Ansätze in der Welt dauerhaft zu beseitigen. Dazu sollte von oben reformiert werden, beflügelt von „Neuem Denken“ – international als einseitige innerstaatliche Handlung, nicht etwa als Ergebnis der antisowjetischen Politik einer von den USA geführten Allianz. Damit kommt Moral als Auflösungsmittel für Übel, möglicherweise das Erbübel, ins Spiel. Dies sei ihm gelungen; seine mittelbar damit verbundene Absicht, aus der KPdSU eine sozialdemokratische Partei zu machen, hingegen nicht.
Solche selbstkritische Bewertung bringt fast folgerichtig Ikeda unter anderem zu der Vermutung, durch und in Gorbatschow sei möglicherweise der Hegelsche „Weltgeist“ wieder mal personifiziert worden. Dazu Gorbatschow abschwächend: „Wo es allerdings um das individuelle Schicksal geht, bin ich nicht der Meinung, dass man sich ausschließlich am Beispiel großer Persönlichkeiten orientieren sollte. […] Denn schließlich besteht ein großer Unterschied zwischen den Taten bedeutender Menschen und dem, was aus ihnen folgt.“ Wohl wahr.
Solche Erfahrungen, Empfehlungen und zum Teil auch überraschende Informationen finden sich in großer Zahl, vor allem die „geistigen Grundlagen“ der praktizierten „moralischen Revolution“ betreffend. Eine der zentralen Aussagen des Gesamtwerks besteht eindeutig darin, daß die Beseitigung des Kommunismus als einer sinnvollen Alternative (wogegen wird allerdings nicht benannt !) in der Welt-Gesellschaft die entscheidende Voraussetzung für den „Triumph der moralischen Revolution“ gewesen sei.
Man wird fragen dürfen: War/ist Kommunismus als Idee und Praxis tatsächlich und noch immer das Erbübel aller gegenwärtigen Übel, also auch solcher, wie eingangs beschrieben und vieler anderer?
Warum kamen Leute denn seinerzeit überhaupt auf die Idee: So wie es ist, kann es nicht bleiben – und 1917 wäre die Konsequenz gewesen, selbst wenn später als Fehlgeburt eines anderen Übels statt der Erlösung offenbart.
Wie aber könnte dann heute sein, dass die Grundwidersprüche der Gesellschaft trotz der auch immer erneuerten Abtötung der Alternative offensichtlich immer weiter wirken, und dass man inzwischen eigentlich weiß, dass fortwirkende Erbübel eben nicht durch die Liquidierung der Sowjetunion aus der Welt eliminiert wurden. Wer macht jetzt mit wem und wie Geschichte? Wer verantwortet die Fehlleistungen? Die Autoren tummeln sich dazu im philosophisch-religiösen Himmel, weniger im irdischen Jammertal. Der dabei verkündigte „Triumph der moralischen Revolution“ in einer Interessen-Gesellschaft könnte da möglicherweise nur ein zusätzlicher Umweg auf einem Irrweg sein, der das bleibt, weil und solange man nicht die andauernden Erbübel aus dem Weg schaufelt. Könnte diese zunehmende Erkenntnis der zwar zu betrauernde, aber moralische Gewinn der heutigen Misere sein?
Abgesang: Der zeitweilig legendäre Tschapajew, Wassili Iwanowitsch, wurde nach dem 5. September 1919 von Nikolaus Romanow im russisch-orthodoxen Kulturhimmel mit Fragen überschüttet, was sich denn in dem knappen Jahr seit dem 17. Juli 1918 verändert habe. Da war, was die ewigen Werte Russlands ausmacht, eigentlich nichts. Schließlich die Frage von Nikolaus II: „Und der Wodka, auch noch immer wenigstens 37,5 Prozent?“ Konterte Tschapajew: „Bei uns jetzt mindestens 40 Prozent!“ Nikolaus, bedenkend: „Und wegen der 2,5 Prozent habt ihr das Ganze veranstaltet?“

Michail Gorbatschow / Daisaku Ikeda: Triumph der moralischen Revolution, Verlag Herder, Freiburg. Basel. Wien 2015, 266 Seiten, 19,99 Euro.