18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Hegemon Deutschland?

von Stephan Wohanka

„… dass Deutschland heute in einer hegemonialen Position in Europa ist, die mächtiger ist als vor 1914, und mittels ökonomischer Mittel heute mehr erreicht als in zwei Weltkriegen mit militärischen. […] Die machtpolitische Kontinuität ist offensichtlich…“. Oder: „Gut, deutsches Kapital drang nicht wie ab 1939 infolge von Aggression in andere Länder, aber doch wie bis dahin […] zur Vorbereitung der Aggressionen und wir konnten unsere Militärmaschinerie in entfernte Gegenden verlagern“. Weiter: „Unterdessen macht Herr Schäuble […] aus dem früheren EU-Mitglied Griechenland eine Schuldknechtschafts-Kolonie“. Und: „Und auch die Strategie von USA, Nato und EU/Bundesregierung mit allen Konsequenzen, Zurückdrängung Rußlands, EU-isierung der greifbaren osteuropäischen Länder zur Potentialsicherung im ‚Endkampf’ gegen China, Schaffung von besseren Ausgangsstellungen im Nahen Osten (IS, türkische Strategie, Neuordnung der Territorien nach Gusto der USA) und militärische weltweite Dislozierung von Eingreiftruppen“.
Blättchen-Leser erkennen unschwer – das sind Zitate aus Blog-Texten der letzten Zeit. Sie thematisieren die heutige Rolle Deutschlands in Europa und der Welt; und das im Rekurs auf die Vergangenheit: Das hegemoniale, ja militante Deutschland strebe – zum Teil in Komplizenschaft mit NATO, den USA – wenn nicht die Weltherrschaft, so doch die in Europa an und habe letztere schon quasi erlangt, mit fatalen Folgen für andere.
Liebe Autoren, die Sie sich ja wohl alle selbst erkennen – sind Ihnen, um das Mindeste zu sagen, nicht schlicht die polemischen Pferde durchgegangen? Es ist bemerkenswert: In Deutschland – hier geradezu exemplarisch vorgeführt – „herrscht eine Kultur der öffentlichen Bestrafung“, geschuldet einem typisch deutschen „Perfektionismus“ (Fritz Breithaupt). Derselbe weiter: „Wer in den Medien auftritt, muss A oder B sagen…“
Es wird also kritisiert – was völlig in Ordnung ist –, das aber mit teils zweifelhaftem Blick auf Tatsachen. Geschichte wird schon mal zurechtgebogen oder missbraucht; was die Kritik bezweckt, was mit ihr intendiert ist, bleibt oft im Unklaren. Konkret: Was soll die Behauptung, dass „Deutschland heute […] mittels ökonomischer Mittel mehr erreicht als in zwei Weltkriegen“ und die „machtpolitische Kontinuität offensichtlich“ sei? Eine „machtpolitische Kontinuität“ zwischen dem Kaiserreich und der Merkel’schen Bundesrepublik zu ziehen, ist Geschichtsklitterung genuiner Art! Jeder Kommentar erübrigt sich ob der Infamie gegenüber den Opfern beider Kriege. Wenn überhaupt ein historischer Vergleich angestellt werden sollte, dann der zu Bismarck, der – wie Jörn Schütrumpf sagt – „wusste, wann es genug“ war. Wobei das Land im Unterschied zu damals heute eher vor der eigenen Macht zurückschreckt, als es sie sucht; ich komme darauf zurück. Oder: Ich hätte schon gern gewusst, wo zur „Vorbereitung der Aggressionen […] wir unsere Militärmaschinerie (die Bundeswehr? Ich muss laut lachen – St. W.) in entfernte Gegenden verlagern (konnten)“? Was meint eine „EU-isierung der greifbaren osteuropäischen Länder zur Potentialsicherung im ‚Endkampf‘ gegen China…“? Zur „Schuldknechtschafts-Kolonie“ hat Susann Lara Baggor im Forum schon Stellung genommen und sie richtigerweise in die Nähe des Shitstorms gerückt. – Realitäten sind es wohl vor allem, die „unsensibel …die akademische Diskussionsatmosphäre stören“.
Bei nüchterner Betrachtung kommt heraus: Tatsächlich ist Deutschland heute das wirtschaftlich – bei Weitem nicht militärisch – stärkste Land in Europa; seine Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit haben zugenommen, was den Abstand etwa zu Frankreich vergrößert hat. Damit hat sein politisches Gewicht unbestritten zugenommen; Berlin rückte ins Zentrum unterschiedlichster Bemühungen zur Lösung internationaler Konflikte. Weder die deutsche Politik – man stelle sich nur Merkel vor – noch die deutsche pazifistische Gesellschaft haben sich diese Rolle gewünscht; ohne dass sie nicht eigene, vor allem ausgeprägte ökonomische Interessen vorher gehabt hätte und heute weiterhin hat. Im Übrigen – die europäischen Verträge lassen aufgrund ihres ausgeglückelten komplexen Vetorechtes keine europäische Übermacht zu…
Es war der damalige polnische Außenminister Adam Sikorski, der 2011 Deutschland zwar zur „unverzichtbaren Nation“ in Europa adelte – dabei die deutsche Tatenlosigkeit mehr fürchtend als vorgebliche deutsche Macht. 2013 war es dann der Economist, der Deutschland als unangefochtene Vormacht in Europa bezeichnete, allerdings: „Die Frage ist nicht mehr, ob Deutschland Europa in eine bessere Zukunft führen kann – sondern ob es den Willen dazu hat“. Heute fordert selbst Yiannis Varoufakis – ja der Varoufakis: „Deutschland muss in Europa ein guter Hegemon sein, großzügig und mit Weitsicht, aber kein Tyrann“.
Ehe nun der – berechtigte – Streit darüber ausbricht, wie Deutschland diese Rolle ausgefüllt, ist jedenfalls erst einmal festzuhalten, dass die Appelle von Steinmeier, Gauck und von der Leyen zu mehr Übernahme von Verantwortung auch außerhalb der deutschen Landesgrenzen wenn schon nicht die mehrheitliche Zustimmung im Inland fanden, so doch den Erwartungen des Auslandes voll entsprachen! (Auch dazu ließe sich anhand der Blättchen-Kommentare ein schönes Kompendium der „öffentlichen Bestrafung“ der Genannten zusammenstellen, aber lassen wir das).
Als „guter Hegemon“ darf die deutsche Politik keine Alleingänge starten, sie muss den Interessenausgleich suchen und dazu Verbündete gewinnen, weil ihre Politik letztlich eine sein muss, von der alle Partner etwas haben. Ein Hegemon – und so auch Deutschland – ist gerade nicht der, der diktieren kann, wo es lang geht, sondern der, der um das Gewicht weiß, welches er in die Waagschale werfen kann, der aber auch die Grenzen seiner Möglichkeiten sieht. Oder sie werden ihm aufgezeigt!
Andererseits ist manches Lob aus dem Ausland auch vergiftet; dahinter steckt der Wunsch, das „starke“ Deutschland möge die Kastanien aus dem Feuer holen: Hinter den schmächtigen aber doch so breiten Schultern eines Schäuble kann man sich bei Währungsproblemen gut verstecken oder aber auch bei der Bewältigung der Flüchtlingsfrage wird Deutschland gern die Hauptrolle überlassen…
In einer Zeit, in der sich alte Gewissheiten in Europa und darüber hinaus auflösen, muss tatsächlich neu über die Rolle Deutschlands in der Welt nachgedacht werden. Welche Herausforderungen bietet die Zukunft – in Europa, in Afrika, im Nahen und Fernen Osten? Wo liegen unsere Stärken? Was sollten wir lieber bleiben lassen? Welche Rolle in der Welt des 21. Jahrhunderts kommt uns zu?
Hart in der Sache, aber ohne Feldgeschrei – so könnte ich mir jedenfalls einen fruchtbaren Diskurs auch auf den Seiten des Blättchens vorstellen. Im besten Falle kann er zu einer Selbstvergewisserung Deutschlands beitragen; und dass dabei linke Stimmen dazugehören, ist selbstverständlich.