18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Weltrekord in Himmelfahrt

von Dieter Naumann

Wer an Rügen denkt, denkt wohl auch zugleich an die Kreideküste, deren Faszination man sich kaum entziehen kann, sei es aus der Luft, vom Wasser, vom Steinstrand oder vom Hochuferweg aus.
Daneben ist die Kreide jedoch auch ein nicht unwesentlicher Wirtschaftsfaktor der Insel. Aber der Reihe nach: Der Begriff Kreide leitet sich vom Lateinischen terra creta ab (so viel wie „gesiebte Erde“), und die Kreidefelsen auf Rügen sollen Namensgeber für diese Art von „Gestein” und für die Kreidezeit genannte Epoche der Erdentwicklung gewesen sein. Kreide liegt auf Rügen an einigen Orten bereits dicht unter dem Mutterboden, an anderen Stellen ist sie mit eiszeitlichen Ablagerungen bedeckt.
Die Kreide entstand im Verlauf von mehr als drei Millionen Jahren aus den Schalen- und Gehäuseresten winziger einzelliger Kammerlinge, so genannter Foraminiferen, daneben sind es die Coccolithen, von bestimmten Kalkalgen ausgeschiedene Kalkkörperchen, und die Gehäuse oder Skelette von Schnecken, Muscheln, Kopffüßern (Ammoniten), Armfüßern und wirbellosen Stachelhäutern, die zur Kreidebildung beitrugen. Jeweils 1000 Jahre soll es gedauert haben, bis der Grund des Kreidemeeres um einen halben Meter anwuchs; ein 50 Meter hohes Kreidesteilufer wäre folglich erst nach rund 100.000 Jahren entstanden.
Die Kreideküste von Jasmund entstand durch wechselnde Druckverhältnisse und entsprechende Bewegungen der Erdkruste: Kreideschichten wurden emporgehoben, brachen schollenförmig ab und wurden durch das nochmals vordringende Inlandeis verformt. Als nach der Eiszeit der Meeresspiegel stieg, drückte die Ostsee gegen die Kreideaufwölbungen an und schuf die Steilufer. Durch das nun schon mehr als 5000 Jahre andauernde Anrennen des Meeres musste sich die Kreideküste bei Jasmund mehr als einen Kilometer zurückziehen.
Anfangs wusste man den Wert der Kreide überhaupt nicht zu schätzen. 1584 suchte der Pfarrherr und fürstliche Salzgraf zu Soden bei Allendorf in Hessen, Johannes Rhenanus, im Auftrag des Pommernherzogs Ernst Ludwig von Pommern auf Jasmund vergeblich nach Salzquellen und Mineralien. Enttäuscht teilte er seinem Dienstherren mit, er habe zwar ganz Stubbenkammer durchzogen, „aber nichts denn Kreiten und Kalk … gefunden“. Selbst Johann Jacob Grümbke bedauerte 1819, dass es die Natur nicht vermocht hatte, „statt der Kreide hier Felsmassen zu schaffen, die zu Steinbrüchen genutzt werden könnten“; die Kreide sei zwar „gut zur Tünche, aber nicht genug bindend als Mauerspeise“.
Diese Geringschätzung sollte sich jedoch bald ändern; der Volkskundler Alfred Haas konstatierte 1844, auf Rügen versuche jeder, den Kreideberg in einen Goldberg zu verwandeln. Es waren zunächst vor allem Kinder und Frauen (de lütt Mann), die die von den Männern (de groot Mann) gebrochene Kreide in Schubkarren zu den Booten am Strand karrten. Auf alten Fotos ist zu sehen, wie die teilweise angeseilten Hauer unter abenteuerlichen Bedingungen in den bis zu 60 Meter hohen steilen, trichterförmigen Abbruchwänden stehend, täglich acht Stunden mit Spitzhacken Rohkreide abschlugen, die in bereitstehende Loren fiel. Der existenzielle Druck, einen möglichst hohen Akkordlohn zu erzielen, hatte zur Folge, dass Vorschriften – sofern sie überhaupt bestanden – beim Abbau der Kreide völlig ignoriert wurden. Die Folge waren zahlreiche Unfälle, was 1868 zur ersten Polizeiverordnung „betreffend den Abbau der Kreide auf Rügen“ führte.
Die Kreideverarbeitung auf Rügen begann um 1836 mit der ersten von den Dänen angelegten Kreideschlämmerei in Lauterbach. Der Däne Lumme(r) und der Putbuser Kaufmann Glaser ließen die Rohkreide mit Segelschiffen von Kreidebrüchen bei Ramzow auf Jasmund nach Lauterbach bringen. Hier wurde die noch verunreinigte Rohkreide in ein waagerecht aufgehängtes drehbares Holzfass geschaufelt und mit Wasser versetzt. Das verschlossene Fass wurde dann per Muskelkraft so lange gedreht, bis sich die Kreidemilch von den Verunreinigungen getrennt hatte.
1848 wurde in der Schlämmerei Blandow durch Hasper und Gierow das wesentlich effektivere Schlämmen in Bottichen eingeführt. Durch Zusatz von Wasser und ständiges maschinelles Rühren wurden auch hier Kreidemilch und Verunreinigungen getrennt. Der Bodensatz musste in harter Knochenarbeit mehrfach ausgebrochen werden, die Kreidemilch wurde gesiebt und mit einem Becherwerk in bis zu 100 Meter lange viereckige hölzerne Rinnen gehoben. Beim Durchfluss setzte sich noch enthaltener Sand ab, und die reine Kreidemilch floss in tiefe, mit Holz oder Steinen verschalte Schlämmbecken, wo sie sich bald als zäher Schlamm absetzte.
Nach zwei bis drei Wochen ließ man das darüber stehende Wasser ab, stampfte die Kreide und hob sie, wenn sie genügend fest war, aus den Schlämmbecken heraus. In bis zu 100 Meter langen Trockenregalen wurden die Kreidekuchen aufgereiht und waren nach weiteren drei bis fünf, teilweise acht Wochen mit einer Restfeuchte von fünf bis drei Prozent versandfertig. So zu Schlämmkreide verarbeitet, ergab die Kreide „einen sehr lohnenden Ausfuhrartikel“ (Dunker 1888).
Der Kreideabbau auf Rügen erfolgt heute bei Promoisel, die Verarbeitung in Klementelvitz. Verbesserungen der Technologie und der Arbeitsmittel führten dazu, dass der um 1900 noch sechs bis acht Wochen dauernde Prozess vom Abbau bis zum Versand heute bereits in etwa 80 Minuten abgeschlossen ist!
Zwei der bekanntesten Kreidefabrikanten waren Magnus Küster, der die Kreide seines Kreidebruchs in Crampas bis 1874 im Obergeschoss des späteren Küsterschen Hotels trocknen ließ, und der Essener Fabrikant Albert von Halfern, der seinen Kreidebruch neben dem von Küster hatte. Beide waren bei den Sassnitzern und Crampasern nicht besonders beliebt: Von Halfern hatte durch Geländeaufkäufe und offenbar fehlendes Interesse am Fremdenverkehr lange Jahre die Ausdehnung von Sassnitz nach Osten verhindert. Auch die Ansicht der Küsterschen Kreidebrüche schien dem Fremdenverkehr nicht gerade förderlich zu sein, die Abwässer seiner Schlämmerei färbten den Sassnitzer Steinbach unschön weiß. Immerhin wurde aus den Aufschüttungen, die Küster am Strand zur Anlandung von Booten zum Abtransport der Kreide vornehmen ließ, der spätere Kurplatz von Sassnitz.
Auch Martin Quistorp, Direktor des Pommerschen Industrie-Vereins, gehörte zu den erfolgreichsten Kreidefabrikanten (an ihn erinnert heute noch der nach ihm benannte Martinshafen bei Neuhof), ebenso Adolph von Hansemann, Erbauer des Schlosses Dwasieden bei Sassnitz, der die Kreide aus seinen Brüchen per Drahtseilbahn zum Hafen transportieren ließ.
Ein nie in Betrieb genommenes technisches Denkmal der Kreideverarbeitung ist die restaurierte Kreidebrücke in Wiek. Mit ihrer Hilfe sollte die durch die Stettiner Portland-Zement-Fabrik auf Arkona gebrochene Kreide in Schiffe verladen werden. Massive Proteste und schließlich auch staatliche Intervention verhinderten die Zerstörung des rügenschen Nordkaps.
Wolfgang Rudolph berichtete in seinem 1953 erstmals erschienenen Heimatbuch „Die Insel Rügen“ über den weniger erfolgreichen Besitzer eines kleinen Kreidebruches bei Sagard, der sich hoffnungslos verschuldet hatte und keinen Ausweg aus seiner misslichen Lage sah. Er schichtete auf dem Boden seines Bruches einige Dynamitkisten auf, setzte sich darauf und zündete. Die Witwe wollte die Überreste ihres glücklosen Mannes möglichst vollständig bestatten. Erzählt wird, dass der Amtsvorsteher angesichts der Überforderung der örtlichen Feuerwehr und der laufenden Ernte deshalb jedem Schulkind für jedes gefundene Körperteil einen Groschen zahlte. Der Ringfinger mit dem Ehering – für ihn war eine Mark ausgelobt – soll allerdings erst Wochen nach der Beisetzung durch einen Jäger und dessen Hund gefunden worden sein. Selbst ein amerikanisches Boulevardblatt, der Californian Star in San Francisco, berichtete darüber und titelte: „Lebensmüder auf der Sprengstoffkiste – Weltrekord in Himmelfahrt“.