18. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2015

Warum der Betreuungsgeld-Unsinn zu Recht gestoppt wurde

von Christian Bommarius

Manchen Gesetzen steht ihre Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben – im Fall des Betreuungsgeld-Gesetzes sogar in leuchtend roter Farbe und mit einem Ausrufungszeichen versehen. Es war überhaupt keine Überraschung, dass das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für nichtig erklärt hat. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer dürfte der einzige gewesen sein, der es nicht hat kommen sehen. Er vertraue darauf, hatte er vor der Verkündung beteuert, dass das Gericht seiner „großen Tradition“ folgen und „ein Herz für Familien und Kinder“ zeigen werde.
Nichts anderes hat der erste Senat getan: Es gehört zur guten Karlsruher Tradition, die überkommenen Leitbilder der Familienpolitik zu beseitigen und den Zugang der Frauen zum Erwerbsleben zu erleichtern. Und wie schon bisher, hat es auch in seiner jüngsten Entscheidung ein großes Herz für Familien und Kinder gezeigt – indem es die von der CSU betriebene Auferstehung der alten familienpolitischen Leitbilder verhindert.
Denn das ist das Ziel des von der CSU durchgesetzten Betreuungsgeldes, wonach Eltern pro Monat 150 Euro erhalten, wenn sie ihre Kinder nicht in eine staatlich subventionierte Kita oder Pflegestelle geben: die Förderung der Hausfrauen-Ehe.
Das Bundesverfassungsgericht hat das zu Recht verworfen. Zu bedauern ist allein, dass die Richter nicht den gesetzgeberischen Wahnsinn aufgedeckt haben, der im Kostüm des Betreuungsgeld-Gesetzes umherstolzierte. Sie haben sich mit der Feststellung begnügt, dem Bund fehle die Gesetzgebungskompetenz. Das ist richtig, aber nicht angesprochen ist die Schizophrenie in der Familienpolitik, in die die CSU den Staat mit dem Betreuungsgeld gezwungen hat. Der Staat stellte mit den Kindertagesstätten eine sozialpolitische Leistung bereit, zu der er verfassungsrechtlich verpflichtet ist, und ermuntert die Berechtigten mit einer anderen sozialpolitischen Leistung dazu, sie nicht anzunehmen.
Es ist keineswegs ein linkes Projekt, sondern ein Gebot des Grundgesetzes, mit Hilfe der Kindertagesstätten den Müttern die Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Denn das Grundgesetz verpflichtet den Staat, bei der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“ hinzuwirken. Aber genau das Gegenteil ist der Effekt, wenn Mütter das Betreuungsgeld annehmen und über Jahre auf Erwerbstätigkeit verzichten – die Nachteile im Berufsleben sind in aller Regel kaum mehr auszugleichen.
Unbeeindruckt von der Karlsruher Entscheidung hat Seehofer angekündigt, in Bayern „auf jeden Fall“ auch in Zukunft das Betreuungsgeld anzubieten, mit vom Bund zur Verfügung zu stellendem Geld. Ein versierter Verfassungsjurist wird Seehofer wohl nicht mehr werden: Warum der Bund berechtigt – oder sogar verpflichtet – sein sollte, eine Leistung zu finanzieren, für die er überhaupt nicht zuständig ist, muss Seehofer erst einmal erklären.
Und erklären muss er auch, warum er die fast einhellige Auffassung von Erziehungswissenschaften, Ökonomen und Rechtswissenschaftlern in den Wind schlägt, wonach die Förderung der Kindertagesbetreuung die wirksamste aller staatlichen Maßnahmen ist. Statt es für arme Elternhäuser attraktiv zu machen, keine öffentlich unterstützten Bildungs- und Betreuungsangebote wahrzunehmen, müsse die Politik die enge Kooperation von Elternhaus und Einrichtungen fördern. Gerade Kinder aus benachteiligten Familien würden davon profitieren.
Karlsruhe verurteilt das Betreuungsgeld und verweist auf das Grundgesetz, die Wissenschaftler verurteilen es und berufen sich auf die Empirie. Seehofer gleichwohl hält daran fest und spricht von Tradition. Aber er meint nur den Versuch, ein totes Pferd zu reiten.
Aus: Berliner Zeitung Online, 21.07.2015. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.