18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Die Möglichkeit der Revolution

von Christoph Menke

Die Revolution ist wieder da: in vielen Verlagsprogrammen, Feuilletons, Talkshows, Seminardiskussionen, in vielen Theaterprogrammen und Kunstausstellungen sowieso. Wimmelte vor einer Generation unsere Zeit noch von nichts so sehr wie von Ästhetikern, so seit fünf Jahren von Revolutionären. Dass eine Revolution kommen werde, weil sie es müsse, glauben (und sagen und schreiben) jetzt viele.

Krise und Revolution

Für Historiker, die die Begriffsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert im Blick haben, ist das nichts Überraschendes. Es erscheint als die Rückkehr zur modernen Normalität. Vor dreißig Jahren schrieb Reinhart Koselleck in dieser Zeitschrift: „Seit der Aufklärung haben das Wort und der Begriff Revolution Konjunktur – wechselnd, aber anhaltend.“1 Revolution – also: „Revolution“, den Begriff und den Diskurs – gab es in der Moderne immer.
Aber nicht immer auf dieselbe Weise. So geht die gegenwärtige Konjunktur der Revolution mit einem grundsätzlichen Bedeutungswandel gegenüber ihrer letztmaligen einher. Die lag um das Jahr 1989, als der Umsturz der sowjetischen Regime in Mittel- und Osteuropa aus der Perspektive des zweihundertjährigen Jubiläums der Französischen Revolution gedeutet wurde. Von der Revolution war daher auch für die gegenwärtigen Ereignisse nur rückblickend die Rede. Die einzig noch mögliche und legitime Revolution schien die „nachholende“ (Jürgen Habermas): Die Revolution hatte schon stattgefunden. Es war die bürgerliche Verfassungsrevolution, die mit dem Rechtsstaat und der Volkssouveränität zugleich den Kapitalismus durchgesetzt hatte.
Die Revolutionen der Gegenwart erschienen demgegenüber als Versuche der „Rückkehr“, der Wiederanknüpfung: als die Revolution zum letzten Mal; die Revolution, durch die, so die liberale Hoffnung, „die Epoche der Revolution beendet“ werden sollte. Nach dieser nachholenden Revolution, so dachte man 1989, würde keine weitere, andere mehr nötig sein. Daher ihr „eigentümlicher Zug“: der „fast vollständige Mangel an innovativen, zukunftsweisenden Ideen“.2 Genau darin liegt der große Unterschied der jüngsten Konjunktur der Revolution: Das Denken der Revolution hat seinen futurischen, progressiven Sinn wiedergewonnen, der den Debatten und Ereignissen von 1989 so vollständig abging. Der Blick ist wieder nach vorne gerichtet. Die Revolution ist im gegenwärtigen Denken wieder die Richtung auf eine andere Zukunft.
Aber eben hier liegt auch das Problem der gegenwärtigen Revolutionskonjunktur. Sie redet von der Revolution als dem Schritt in eine andere Zukunft, aber sie bleibt dabei im Bann der schlechten Gegenwart. Diese Gegenwart erfährt sie als Krise. Die Gegenwart steht im Zeichen sich zuspitzender, zunehmend unlösbar erscheinender Krisen: finanzieller, ökonomischer, politischer, ökologischer, demografischer, moralischer, legitimatorischer Krisen. Das ist der Grund, aus dem die gegenwärtige Revolutionskonjunktur sich speist. Die Revolution soll der Ausweg aus der Krise sein. Aber dabei bleibt die Revolution der bloße Ausdruck der Krise. Hier lautet die Definition der Revolution: das, was die Krise löst. Der Gedanke ist: Die Revolution muss kommen – weil sie es muss. Die Revolution erscheint als die notwendige Folge aus der Krise.
Die Krise und die Revolution fallen aber nicht in eins. Sicher: Sie sind aufeinander bezogen – keine Revolution ohne Krise –, aber die Krise bringt die Revolution nicht von selbst hervor. Das ist die nüchterne Einsicht, mit der Wolfgang Streeck all dem Reden über die kommende Revolution in die Parade fährt. Streeck beantwortet die Frage, „wie der Kapitalismus enden wird“, so: Der Kapitalismus kann auch durch seine Krisen untergehen, ohne dass sein Untergang schon die Revolution bedeuten müsse. Die Revolution soll ja nicht nur das Ende des Kapitalismus, sondern der Anfang von etwas Neuem, Anderem sein. Die Annahme jedoch, „dass der Kapitalismus als historische Erscheinung nur dann enden könne, wenn eine neue, bessere Gesellschaft in Sicht ist“, ist bloß ein „Vorurteil“.3 Die Krise macht die Revolution dringlich, ja notwendig; aber sie macht die Revolution nicht, sie kann sie nicht hervorbringen.
Das führt auf die blinde Stelle, das Ungedachte, der gegenwärtigen Revolutionskonjunktur: Ihr erscheint die Revolution im Zeichen der Notwendigkeit. Oder ihr gilt die Revolution als etwas, das in der Krise notwendig kommen muss. Die Revolution als Notwendigkeit zu denken heißt, sie bloß als ein Geschehen zu denken: als etwas, das eintritt. Damit erspart man sich aber die entscheidende Frage. Denn wenn die Revolution im modernen Verständnis nicht mehr den Umlauf der Sterne und Verfassungen meint, in dem das immer selbe wiederkehrt, wenn sie stattdessen einen „neuen Anfang“ (Hannah Arendt) setzen, einen „neuen Horizont“ (Koselleck) eröffnen können soll, dann muss die Revolution – aber wie und von wem? – gemacht werden. Die Revolution ist ein „Tatwort“; Revolution heißt „Revolutionierung“.4
Ein Geschehen kann durch seine Notwendigkeit (oder Zufälligkeit) bestimmt werden, Taten aber müssen in ihrer Möglichkeit verstanden werden. Bei einem Wandel, der geschieht, kann man sich auf die Frage beschränken, ob er wünschenswert, gar notwendig ist. Bei einem Wandel, der vollzogen oder getan wird – den es nur gibt, indem er vollzogen oder getan wird –, stellt sich die Frage, ob er möglich ist; ob und wie und von wem er vollzogen oder getan werden kann. Dass der Kapitalismus (oder wie immer wir unsere Gesellschaft nennen wollen) in einer Krise ist, ja vielleicht sogar nach seiner immanenten Logik notwendig „enden“ (Streeck) und untergehen muss, sagt noch gar nichts über die Revolution: Es entscheidet nicht über ihre Möglichkeit.

Befähigung und Disziplinierung

Dass der gegenwärtige Revolutionsdiskurs die Frage nach ihrer Möglichkeit verdrängt oder überspringt, ist aber kein bloßes Versäumnis. Es ist ein getreuer Ausdruck der Schwierigkeiten, in die alle Versuche geraten sind, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Hält man sich an die Theoriediskussionen auf der Linken (und andere zur Revolution scheint es nicht zu geben), erscheint die Lage ausweglos: Jede positive Bestimmung der Möglichkeit erweist sich als unfähig, sie als die Möglichkeit der Revolution zu denken.
In klassischer, marxistischer Ausdrucksweise ist die Frage nach der Möglichkeit der Revolution die Frage nach ihrem Subjekt. Und die klassische marxistische Antwort auf die Frage nach dem revolutionären Subjekt besagt, dass es durch eben die Gesellschaft hervorgebracht wird, die in der Krise enden wird; das Untergehende bringt zugleich den Fortschritt hervor. In der Formulierung von Michael Hardt und Antonio Negri: Das „Empire“, also die bestehende Weltordnung, schafft in der „dunklen Nacht“ der Krise selbst das „Potenzial für Revolution“, „denn es bietet uns, neben der Maschine der Befehlsgewalt, eine Alternative“.5 Nach dieser Logik hatte Lenin (in Staat und Revolution) die Post zum „Muster sozialistischer Wirtschaft“ erklärt und als das „nächste Ziel“ der Revolution ausgegeben, „die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren“.
So skurril dies klingt, der Gedanke hinter diesem Vorschlag ist einfach und zwingend: Die revolutionäre Neuorganisation der Gesellschaft kann nur durch das erfolgen, „was der Kapitalismus bereits geschaffen hat“. „Der Kapitalismus schafft [selbst] die Voraussetzungen dafür, daß wirklich ‚alle‘ an der Leitung des Staates teilnehmen können.“ Das leistet der Kapitalismus durch die „Schulung und Disziplinierung von Millionen Arbeitern“. Diese Disziplinierung hat zwar die Ausbeutung der Arbeiter zum Ziel, aber – List der Geschichte – ihre Befähigung zur Selbstorganisation ihrer Arbeit zur Folge. So bringt der Kapitalismus selbst das Subjekt seiner revolutionären Überwindung hervor.
Angefangen mit Rosa Luxemburg hat der „westliche“ Marxismus in diesem leninschen Gedanken den Keim für den späteren Umschlag der Revolution in Unterdrückung gesehen. Um die „Nähe, Leichtigkeit und Durchführbarkeit“ (Lenin) der Revolution zu erweisen, muss Lenin das revolutionäre Subjekt unmittelbar mit demjenigen identifizieren, das die kapitalistische Disziplinierung schon hervorgebracht hat: Das revolutionäre Subjekt ist das disziplinierte Subjekt.
Es kann dann nicht verwundern, dass der Staat, den diese Revolution hervorbringen wird, mit nichts anderem als der Disziplinierung seiner Subjekte beschäftigt ist. Lenin ist so sehr darauf aus, die Möglichkeit der Revolution im Bestehenden abzusichern, dass sie sich dadurch auflöst: Die Revolution ist zwar gesichert, aber eben dadurch nicht mehr befreiend.
Man kann die Entwicklung der linken Theorie in Frankreich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten – ihre Entwicklung zum Postmarxismus – als Konsequenz aus diesem Paradox der marxistischen Revolutionstheorie verstehen. Denn darin wiederholt sich nur das Paradox, das der Aufklärung als solcher eingeschrieben ist. Michel Foucault nannte es (in seinem Essay Was ist Aufklärung?) das „Paradox von Freiheit und Fähigkeit“. Die optimistische Prämisse der Aufklärung besagt, dass das „Anwachsen der Autonomie“ mit dem „Anwachsen der Fähigkeiten“ zusammenfällt, dass jene aus dieser folgt: Befähigung, so die Aufklärungsprämisse, die Lenins Bestimmung des revolutionären Subjekts fortschreibt, bedeutet Befreiung. Dieses Verhältnis ist aber „nicht so einfach“ (Foucault). Denn es gibt überhaupt keine Befähigung ohne Disziplinierung, Disziplinierung ist aber das Gegenteil, die Blockade der Befreiung. Die Wirklichkeit der Disziplinierung zersprengt die optimistische Identifizierung von Befähigung und Befreiung.
Dann kann aber auch das Subjekt der Revolution nicht das gegenwärtig bereits gegebene sein, so wie es durch soziale Prozesse der Abrichtung und Disziplinierung hervorgebracht wurde. Grundlegender noch: Es kann gar nicht das Subjekt als Bündel von sozial hervorgebrachten Fähigkeiten sein. Ja es kann überhaupt nicht das Subjekt in seiner gesellschaftlich hervorgebrachten, geschichtlich bestimmten Gestalt sein. Um die Möglichkeit der Revolution, als Befreiung vom Bestehenden, zu verstehen, muss der Aufklärungsbegriff der Subjektivität selbst in Frage gestellt werden.
So unterschiedliche Denker wie Miguel Abensour, Alain Badiou und Jacques Rancière sehen den ersten Schritt zu einem anderen Begriff der Politik daher darin, den Grundfehler des klassischen Marxismus zu vermeiden. Dieser Grundfehler besteht in nichts anderem als darin, gesellschaftstheoretisch zu denken; er besteht in der „gesellschaftlichen Einverleibung der politischen Klassen“, der „Repräsentation des Sozialen in der Politik“.6 Die französische linke Theorie zieht aus dem Scheitern des Marxismus radikale methodische Konsequenzen. Die Konsequenz ist: Schluss mit der Gesellschaftstheorie. Das (politische) Subjekt ist keine Kategorie des Sozialen; das revolutionäre Subjekt kann nicht als das sozial produzierte, daher auch nicht als ein historisch spezifisches Subjekt verstanden werden.
Das revolutionäre Subjekt ist vielmehr nichts anderes als das Subjekt. Das „Potenzial für Revolution“ (Hardt / Negri) findet sich nicht in der spezifisch kapitalistischen Subjektgestalt – Lenins geschultem und diszipliniertem Postbeamten –, sondern im Sein des Subjekts: nicht in der geschichtlichen Gestalt der Subjektivität, sondern in der Subjektivität überhaupt. Revolutionär sind nicht die bestimmten, vom Kapitalismus hervorgebrachten Fähigkeiten; revolutionär ist vielmehr die Fähigkeit der Subjektivität als solcher: die unbestimmte Fähigkeit oder die Fähigkeit der Unbestimmtheit, die Kraft der Negativität, von allem zu abstrahieren und zu allem Nein zu sagen. Revolutionär ist das Subjekt nur als die Instanz unbestimmter Freiheit und leerer Gleichheit.
Aber mit dieser Konsequenz aus der Kritik an Lenins Antwort wird die Frage nach der Möglichkeit der Revolution ein zweites Mal verfehlt. Lenin kann nicht erklären, wie das kapitalistisch disziplinierte Subjekt die Verhältnisse verändern kann; sein Subjekt ist nicht revolutionär, weil es die kapitalistische Disziplin bloß fortschreibt. Aber umgekehrt können die Postmarxisten nicht erklären, wie ein Subjekt unbestimmter Freiheit und leerer Gleichheit irgendetwas, gar die Verhältnisse verändern kann. Denn welcher politischen Tat ist dieses Subjekt fähig? Es ist der „Aufstand“ (Étienne Balibar), bestenfalls: der Aufstand in Permanenz. Der Aufstand ist aber nicht die Revolution. Die Revolution ist mehr als der Bruch mit der alten Ordnung: Sie ist die Gründung einer neuen. Das vermag das Subjekt der leeren, unbestimmten Freiheit nicht, denn es vermag – nichts.
Auch deshalb, so hat Slavoj Žižek vor ein paar Jahren zur Verblüffung der einen und Empörung der anderen gefordert, müssen wir heute, nach all der Kritik, doch noch einmal zu Lenin zurückkehren. Genauer: Wir müssen nicht zu Lenin zurückkehren, sondern „Lenin wiederholen“.7 Denn die „‚politische‘ Kritik des Marxismus“ führt, so Žižek, nur zu einer „reinen Politik“: zu einer Politik des Aufstands, der Rebellion, Subversion oder Transgression. Lenin aber wollte die Revolution denken, und die Revolution zu denken – in diesem einen Punkt würde Žižek Hannah Arendt zustimmen – heißt die Gründung des Neuen zu denken.
Lenins Frage lautet nach Žižek: „Welche Art Macht wird es geben, wenn wir die Macht ergriffen haben werden?“ Wie kann die Revolution als Etablierung einer politischen Macht gedacht werden, die die Verhältnisse nicht nur unterbricht, sondern verändert? Wie sehen die „Institutionen prinzipiell anderer Art“ aus, von denen Lenin gesprochen hatte? Und wer ist ihr Subjekt? Welche Fähigkeiten muss man haben, um sie schaffen und erhalten zu können? Das Subjekt der Revolte, das die unbestimmte Freiheit und die leere Gleichheit geltend macht, wird es nicht können.
Das ist die Aporie, in der sich die Versuche verstricken, die Revolution nicht nur als Geschehen, sondern als Tat und damit in ihrer Möglichkeit zu denken: Entweder sie geben eine positive Bestimmung der Fähigkeiten und der Macht, die sich in der Revolution verwirklichen – aber dann schreibt die Revolution nur die geschichtlich gegebene soziale Gestalt des Subjekts fort. Oder das Subjekt wird über-, außer- oder ungeschichtlich als die Kraft der Negativität, der Befreiung von seiner sozialen Gestalt verstanden – aber dann ist alles, was es tun kann, nur Bruch, Aufstand und Revolte. Unfähig zur Revolution ist das Subjekt in beiden Versionen. Die Revolution wird als Tat, als Tat eines Subjekts, unmöglich. Dann bleibt uns nur noch die „Sehnsucht nach dem Ereignis“: „Es wird geschehen, geschah einst. Es wird alles anders sein, alles ist schon anders geworden.“8

Revolution und Evolution

Dass Geschichte und damit Veränderungen nur geschehen, nicht gemacht werden können, ist die Behauptung, die in einem der zentralen Begriffe des gegenwärtigen Denkens steckt. Das ist der Begriff der Evolution. Evolution, das Denken der Veränderung als evolutionäres Geschehen, ist die Grundkategorie, die die Wissenschaften vom gesellschaftlichen und vom natürlichen Leben, die Soziologie und die Biologie, miteinander teilen. Darin ist Evolution der antirevolutionäre Begriff.
Evolution und Revolution unterscheiden sich nicht vor allem durch ihre Zeitlichkeit und Geschwindigkeit. Sie unterscheiden sich vielmehr durch ihre Modalität – durch ihre Ontologie. Sie sind entgegengesetzte Verständnisse geschichtlicher Veränderung. Auch evolutionär kann sich alles, und manchmal auch alles ganz schnell, verändern. Evolution heißt Kontingenz: Alles könnte ganz anders sein und war es und wird es werden. Antirevolutionär ist der Begriff der Evolution aber, weil er die verändernde Tat ausschließt. Die Soziologie und die Biologie sagen uns: Wir waren anders, und wir werden anders werden, aber wir können nichts verändern. „Alles könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern“, lautet nach Luhmann die resignative Einsicht, die sie hervorbringen. Die Soziologie und die Biologie arbeiten daran, durch das Denken der Evolution die Möglichkeit der Revolution zu verschließen.
Entscheidend an der Revolution ist nicht, was, sondern wie sie verändert. Oder was die Revolution zuallererst, vor diesem und jenem, verändert, ist, wie sich geschichtliche Veränderungen vollziehen. Die Revolution verändert das Verändern: Sie macht aus dem bloßen Geschehen die eigene Tat. Die Revolution steht daher weder in der Geschichte noch außerhalb der Geschichte, sondern sie ist der Akt, der uns in ein anderes Verhältnis zur Geschichte stellt. Die Revolution verändert vor allem anderen, wie wir geschichtlich sind: Sie verändert unsere Geschichtlichkeit. In der Sprache der Philosophie heißt das: Die Revolution ist eine ontologische Tat. Sie verändert nicht nur, was die Dinge sind, sondern wie sie sind: ihre Seinsweise.
Das erklärt ein merkwürdiges, sonderbares Phänomen, auf das Heinrich Heine in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland hingewiesen hat: das Phänomen, dass zwischen der politischen Revolution in Frankreich und der philosophischen Revolution in Deutschland, die mit Kant beginnt, die „sonderbarsten Analogien“ und der „merkwürdigste Parallelismus“ herrschen. Man versteht sie nach Heine nur, wenn man sieht, dass sie in verschiedener Weise dasselbe tun. Denn die politische Revolution ist niemals nur „materiell“. Es gibt die politische Revolution nur als eine „Umkehrung der Denkungsart“ (Kant).
Deshalb nannte Friedrich Schlegel die „Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister“ zusammen „die größten Tendenzen des Zeitalters“. Wilhelm Meister ist „Poesie der Poesie“ (Schlegel), so wie die Wissenschaftslehre Philosophie der Philosophie ist. Sie sind „transzendental“ oder „kritisch“. Transzendental oder kritisch zu sein heißt, so Schlegels berühmte Definition, „auch das Produzierende mit dem Produkt darzustellen“; im fertigen Produkt das, was es produziert hat, freizulegen und zu entfalten.
Die Philosophie wird kritisch oder transzendental, wenn sie Gedanken auf Akte des Denkens zurückführt. Die Transzendentalpoesie zeigt im Gedicht zugleich das „Dichtungsvermögen“, das es hervorgebracht hat. Ebenso kann die Französische Revolution nicht als Produkt – also nicht durch die institutionellen, strukturellen Veränderungen, die sie hervorbringt – definiert werden. So wie es Transzendentalphilosophie und -poesie gibt, so ist die Revolution Transzendentalgeschichte. Sie verhält sich transzendental – oder kritisch – zur Geschichte. Sie lässt das Produzierende erscheinen, das in der Geschichte wirkt und durch ihre Produkte, ihre Evolutionen und Veränderungen, verdeckt wird. Die Revolution ist die politische Tat, die sich selbst hervorbringt, indem sie die Geschichte in die politische Tat zurückverwandelt, die sie einmal war.

Anfangen anfangen

Was sagt uns dieses Verständnis des Akts der Revolution über ihre Möglichkeit? Die Revolution ist immer neu, und zugleich kommt sie immer nur spät. Weil die Revolution nicht nur einzelne Verhältnisse und Einrichtungen verändert; weil die Revolution vielmehr verändert, wie es Verhältnisse und Einrichtungen gibt – weil sie sie in unsere Taten verwandelt, beginnt die Revolution eine neue, andere Geschichte. Die Revolution ist nicht die Lösung irgendeiner Krise. Sie ist nichts anderes als der Neuanfang einer Geschichte, in der es Neuanfänge gibt. Die Revolution fängt das Anfangen an.
Aber anfangen kann man nicht am Anfang. Die Revolution kommt immer erst spät in der Geschichte. Nur wenn Veränderungen schon geschehen sind, das evolutionäre Geschehen sich schon vollzogen hat, können wir selbst darangehen, etwas zu verändern. Weil die Revolution nichts als ein neues, „kritisches“ oder „transzendentales“ Verhältnis zur Geschichte ist, setzt sie die Geschichte als geschehene voraus. Die „Arbeit“ der Geschichte muss schon geleistet sein. Materialistisch gesprochen: Die Geschichte der Arbeit muss schon weit fortgeschritten sein, damit es die politische Tat geben kann, durch die wir die Verhältnisse verändern.
Lenin hatte also recht, als er die kapitalistische Disziplinierung, durch Arbeit, die Voraussetzung für die Revolution nannte. Nur wer Fähigkeiten aller Art erworben hat, indem er befähigt, also diszipliniert, wurde, kann dann auch die Tat vollziehen, in der er, zum ersten Mal, selbst die Dinge verändert. Man kann sich nicht selbst dazu befähigt haben zu handeln. Selbst zu handeln, die eigene Tat des Veränderns, setzt voraus, befähigt worden zu sein.
Aber Lenin hatte unrecht, als er deshalb, weil die geschichtliche Evolution die Voraussetzung der Revolution ist, die Revolution als die Folge der geschichtlichen Evolution beschrieb. Die Revolution kann nicht „erarbeitet“ werden. Die Revolution reflektiert das Erarbeitete; sie verhält sich kritisch oder transzendental dazu, wie und wozu die Disziplin der Arbeit uns befähigt hat.
Die Revolution ist das politische Hinausgehen über die gesellschaftliche Arbeit. Das hat Hans-Peter Krüger (im Anschluss an eine Bemerkung von Marx im Achtzehnten Brumaire) den „Heroismus“ der Revolution genannt: „Für Marx bestand historisch Heroismus darin, in der politischen Praxis dem ökonomischen Entwicklungsniveau bis zur Selbstaufopferung vorauszueilen.“9 Ohne Heroismus gibt es keine Revolution: ohne dass man – politisch – mehr tut, als man – ökonomisch, gesellschaftlich – vermag. Die Revolution ist eine Selbstüberforderung.
Die Möglichkeit der Revolution ist ungesichert, weil sie weder in der Geschichte noch außerhalb der Geschichte, sondern dazwischen steht. Sie ist das Verhältnis zur Geschichte, das selbst nicht rein geschichtlich sein kann (sondern „transzendental“). Darin ist die Revolution wie das Kunstwerk. Der Künstler muss es machen können, aber er kann es nicht machen. Die Revolution ist wie die Kunst: Können – des Nichtkönnens.

Aus: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 69 (794) 2015.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.

Christoph Menke, Jahrgang 1959, ist Philosoph und Germanist sowie seit 2009 Professor für Philosophie in Frankfurt am Main.

  1. Reinhart Koselleck, Revolution als Begriff. Zur Semantik eines einst emphatischen Worts, in: Merkur, Nr. 433, März 1985.
  2. Jürgen Habermas: Die nachholende Revolution, Suhrkamp, Frankfurt 1990.
  3. Wolfgang Streeck: Wie wird der Kapitalismus enden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3, 2015.
  4. Reinhart Koselleck: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs, in: Ders.: Vergangene Zukunft, Suhrkamp, Frankfurt 1979.
  5. Michael Hardt / Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Campus, Frankfurt 2002.
  6. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt 2002; Alain Badiou: Ist Politik denkbar?, Merve, Berlin 2010.
  7. Slavoj Žižek: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Suhrkamp, Frankfurt 2002.
  8. Peter Trawny: Medium und Revolution, Matthes & Seitz, Berlin 2011.
  9. Hans-Peter Krüger: Heroismus und Arbeit in der Entstehung der Hegelschen Philosophie (1793–1806),Akademie, Berlin 2014.