18. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2015

US-Interventionsmüdigkeit – Phänomen oder Phantom?

von Sarcasticus

Faktisch jedes Land wird mit einer
militärischen Intervention bedroht,
in dem die USA ein Ziel ihres
war on terror
ausmachen – ein völkerrechtliche Abnormität,
die zur militärischen Normalität geworden ist.
Norman Paech

Klaus-Dieter Frankenberger, Außenpolitik-Chef der FAZ, informierte dieser Tage die Leser seiner Hauspostille auf der Basis neuester Befragungsergebnisse darüber, dass 50 Prozent der US-Bürger der Auffassung seien, ihr Land solle sich lieber um die eigenen Belange kümmern als um die Probleme anderer Staaten. Darin, schrieb Frankenberger, spiegele sich „eine Interventionsmüdigkeit nach den Erfahrungen in Afghanistan und im Irak“, und er hätte die libysche Lektion durchaus gleich in die Aufzählung einreihen können. Der US-Präsident habe dieses Phänomen seit Beginn seiner zweiten Amtszeit aufgegriffen: „Vorrang hat für ihn die ‚innere Erneuerung‘“.
Ist Frankenberger – nicht was die Einstellung von 50 Prozent der Amerikaner, wohl aber das Handeln der Obama-Administration anbetrifft – schlecht informiert?
Das kann nicht sein.
Oder macht er uns ein X für ein U vor?
Das sollte nicht sein.
Vielleicht aber operiert er auch nur mit einem (militärischen) Interventionsbegriff, für den unterhalb der Schwelle raumgreifender Kriege inklusive Besetzung fremder Territorien (Afghanistan, Irak) oder wenigstens massiver Luftangriffe (Libyen, Islamischer Staat) schlicht kein interventionistisches Handeln vorliegt?
Das könnte sein, käme der Variante „ein X für ein U“ allerdings gefährlich nahe.
Denn Fakt ist: Während des Finanzjahres 2014, das am 30. September vergangenen Jahres endete, waren U.S. Special Operations Forces (SOF) in 133 Ländern im Einsatz. Das waren ungefähr 70 Prozent der Staaten der Erde – nach Angaben eines Oberstleutnants Robert Bockholt, Offizier für Öffentlichkeitsarbeit beim Special Operations Command (SOCOM) mit Sitz auf dem Luftwaffenstützpunkt MacDill in Florida. Betrachtet man den Dreijahreszeitraum 2011 bis 2014, dann summieren sich die Länder, in denen SOF verdeckte Operationen (black ops) durchgeführt haben, gar auf mehr als 150. Die Missionen reichten von Killerkommandos über Verhaftungszugriffe bis zu Manövern. Doch damit nicht genug: Das laufende Finanzjahr 2015 könnte, wie der investigative US-Journalist und -Autor Nick Turse meint, bezüglich black ops „ein Rekordbrecher“ werden.

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Exkurs: Seit dem 11. September 2001 haben SOF Hochkonjunktur in den USA. Die Gesamtmannschaftsstärke der SOCOM zugeordneten Kräfte hat sich seither von 33.000 auf fast 70.000 mehr als verdoppelt. „Das Kommando ist auf seinem absoluten Zenit“, so General Joseph Votel III, seit August 2014 SOCOM-Chef, der geradezu euphorisch „ein goldenes Zeitalter für Spezialoperationen“ konstatiert. Traditionell verfügen alle vier Teilstreitkräfte der USA über eigene SOF. Den Löwenanteil bilden Einheiten des Heeres – vor allem Ranger und die aus Indochina unrühmlich in Erinnerung gebliebenen Green Berets, aber auch die auf Killer-Einsätze spezialisierte Delta Force. Hinzu kommen Special Tactics Teams der Luftwaffe, SEALs (Akronym aus Sea, Air, Land) der Marine und Spezialkräfte des Marine Corps. SOF-Verbindungsoffiziere sind bereits in 14 US-Botschaften integriert (so in Australien, Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Israel, Jordanien, Kanada, Kenia, Kolumbien, Polen und in der Türkei); bis 2019 sollen weitere 26 Länder hinzukommen.

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Und was treiben die U.S. Special Operation Forces ganz konkret? Zum Beispiel das seit 1980 bestehende Team 6 der SEALs, das aus etwa 200 sogenannten Operatoren bestehen soll? Dessen spektakulärste Aktion war zweifelsohne die Tötung Osama bin Ladens. Gerade hat die New York Times in einer umfänglichen Reportage den Schleier der Geheimhaltung über den üblichen Aktivitäten dieser Truppe ein wenig gelüftet und fand eine Einheit, die sich in „eine globale Menschenjagdmaschine“ (a global manhunting machine) verwandelt hat und deren Angehörige etwa in Afghanistan in der Regel erst töteten und allenfalls später realisierten: „Oh, möglicherweise habe ich die Gefahr überschätzt.“
Insgesamt lieferte das Jahr 2014 einen Überblick über weltweite amerikanische SOF-Aktivitäten, der als repräsentativ gelten kann.
Im Januar und Februar zum Beispiel führten Angehörige der 7. Special Forces Group und des 160. Special Operations Aviation Regiments ein gemeinsames Training mit den Streitkräften von Trinidad und Tobago durch, während zeitgleich Truppen der 353. Special Operations Group in eine gemeinsame Übung mit der Königlich-Thailändischen Luftwaffe eingebunden und Einheiten der Green Berets in der Dominikanischen Republik im Manöver waren.
Im März befanden sich Mitglieder der Spezialkräfte des Marine Corps auf dem Raketenkreuzer USS Cowpens, um „Sicherheit und Stabilität in der indo-asiatisch-pazifischen Region“ zu unterstützen. Im selben Monat befanden sich Angehörige der SOF aller Teilstreitkräfte zur Übung Fused Response in Belize.
Im April führten Soldaten der 7. Special Forces Group gemeinsame Luftlandeübungen mit den Honduranischen Streitkräften durch, während Angehörige der gleichen Einheit im südlichen Afghanistan verdeckte Operationen ausführten.
Im Juni und Juli weilten Mitglieder der 19. Special Forces Group zu einer gemeinsamen Übung mit einheimischen Streitkräften in Albanien, während Delta Force-Kräfte am Kidnapping von Ahmed Abu Khattala in Libyen beteiligt waren und Green Berets in Irak als Berater im Kampf gegen den Islamischen Staat fungierten. Zur gleichen Zeit führten 26 Mitglieder der 522. Special Operations Squadron mit einem Transportflugzeug vom Typ MC-130 für Spezialoperationen die, wie auf der Website des Air Force Special Operations Command vermerkt ist, „erste ununterbrochene Mission rund um die Welt” durch; sie dauerte vier Wochen und führte über 28.000 Meilen sowie fünf Kontinente – mit Zwischenstopps unter anderem in Tansania, Sari Lanka und Japan.
Im August trainierten Mitglieder der 20. Special Forces Group zusammen mit Elite-Einheiten von Surinam, während eine Delta Force-Aktion in Syrien scheiterte, die den vom Islamischen Staat als Geisel gehaltenen US-Journalisten James Foley retten sollte. (Foley wurde wenig später brutal ermordet.)
Im September und Oktober übten 1.200 SOF-Kräfte zusammen mit Einheiten aus den Niederlanden, Tschechien, Finnland, Großbritannien, Litauen, Norwegen, Polen, Schweden und Slowenien Häuserkampf, Scharfschützentaktik, Bootsoperationen und Geiselrettung. Angehörige des 75. Ranger Regiments trainierten währenddessen Bunkerknacken in Südkorea.
Im November befreiten US-Kommandos acht ausländische Geiseln in Jemen.
Im Dezember scheiterte eine ebensolche SEALS-Aktion, auch in Jemen, blutig, wobei zwei Geiseln, darunter der britisch-amerikanische Fotojournalist Luke Somers, sowie acht unbeteiligte Zivilisten zu Tode kamen.
Ob diese Übersicht für 2014 tatsächlich repräsentativ ist, kann letztlich nicht mit Sicherheit gesagt werden, denn zusammenzutragen sind natürlich nur Aktivitäten, über die Medien berichtet haben oder die anderweitig aus Tapet kamen. Für die übergroße Mehrzahl der SOF-Routineoperationen der USA dürfte dies nicht gelten. Trotzdem zeichnet dieser Überblick über SOCOM-Operationen nur eines Jahres, mit den Worten von Nick Turse, das „Bild eines weltenbummelnden Kommandos [globetrotting command] in ständiger Wechselwirkung mit Bündnispartnern in jeder Ecke der Welt“. Anders drückte es der scheidende US-Verteidigungsminister Chuck Hagel im August 2014 aus, als er den Zeitraum von 2011 bis 2014 kurz und bündig so zusammenfasste: „Tatsächlich sind SOCOM und das gesamte US-Militär stärker international engagiert als jemals zuvor – an mehr Einsatzorten und mit einem breiteren Spektrum an Missionen.“
Im Unterschied zur Hälfte der US-Bevölkerung ist „Interventionsmüdigkeit“ im Hinblick auf die Obama-Administration also keineswegs ein Phänomen, ja nicht einmal ein Phantom, sondern – eine Schimäre.

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Nachbemerkung: Im Jahre 2001, bevor die USA ihren Krieg gegen den Terror begannen und der außerordentlich starke Ausbau der SOF einsetzte, umfasste die offizielle Liste von internationalen Terrororganisationen des U.S. State Departments 23 Positionen – von der Hamas über die IRA und die Taliban bis zu al-Qaida; für letztere rechnete man seinerzeit mit irgendwo zwischen 200 und 1.000 Mitgliedern.
Heute, nach über 13 Jahren offener und geheimer Kriege, weltweiter Überwachung, ungezählter Nacht- und Nebelaktionen, nach gesetzwidrigen Festnahmen, Gefangenenfolter und Tausenden von Tötungen per Drohnen, nicht zu vergessen die dafür verausgabten Abermilliarden an Dollars, sprechen die Resultate für sich selbst: Die Liste des State Departments hat sich um 36 Posten verlängert, und die Taliban sowie al-Qaida operieren nicht nur immer noch in Afghanistan und Pakistan, al-Qaida-Ableger und -Verbündete sind heute vielmehr auch in Mali, Tunesien, Libyen, Marokko, Nigeria und weiteren Ländern aktiv. Und allein für den Islamischen Staat auf den Gebieten Iraks und Syriens, dem die USA samt ihrer Koalition der Willigen durch ihre völkerrechtswidrige Aggression gegen Irak den Boden bereitet haben, rechnete die CIA bereits im September 2014 mit über 30.000 Mann unter Waffen.
Nick Turse‘ Fazit: „Wenn Geschichte überhaupt einen Anhaltspunkt bietet, dann den, dass das Totalversagen der verdeckten Operationen dazu beiträgt, dass dieses Zeitalter ein ‚goldenes‘ für das U.S. Special Operations Command bleibt.“