18. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2015

Der Schrei der Zeit. Egon Schiele

von Klaus Hammer

1910 stellte er sich schreiend, mit übergroß, schmerzhaft aufgerissenem Mund dar, schräg in der Bildebene, in jener zerklüfteten und doch so korrekten Umrisslinie, die die Handschrift des Künstlers fast von Beginn an prägte. Seine verformten, nackten Selbstbildnisse, die einen Zug zum Exhibitionismus nicht verleugnen, spiegeln panisches Entsetzen und an Hysterie grenzende Existenzangst wider. Niemand anders hat den Schrei der Zeit, den Schrei der Vereinsamung und Verzweiflung, die Widersprüche und seelischen Spannungen vor und während des Ersten Weltkrieges so eingefangen wie der österreichische Maler und Zeichner Egon Schiele, der mit 28 Jahren von einer verheerenden Grippe-Epidemie dahingerafft wurde. Viele seiner Darstellungen stammen aus einem unmittelbaren Erlebnis, sind Anklagen, mit denen der Künstler sich mit den Opfern identifiziert. In schonungsloser Offenheit wandte er sich an den Mitmenschen, wollte er eigene Beunruhigung auf ihn übertragen.
Er war das enfant terrible des Wiener Kunstlebens. Seine Arbeiten wurden als „Auswüchse eines kranken Gehirns“ oder als Karikaturen angesehen, er wurde sogar zu Gefängnishaft verurteilt, weil die erotischen Zeichnungen in seinem Atelier „Jugendlichen zugängliche Pornographie“ seien. Obwohl Schiele in ständigen finanziellen Schwierigkeiten lebte und um seine Existenz als Künstler ringen musste, besaß er doch einen kleinen Kreis von Sammlern und Förderern, die sein Werk schätzten. Aber über die Grenzen des Landes hinaus sind seine Arbeiten erst in den 1950er/1960er Jahren international bekannt geworden.
Die Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle belegen in faszinierender Weise das Werk dieses Frühvollendeten, das in einem knappen Jahrzehnt entstanden ist. Es sind Meisterwerke psychologischer Charakterisierungskunst, die die Gründe menschlicher Existenz ausloten. Nur eine kurze Zeitspanne war Schiele von der Abkehr vom Kanon der Akademie unter Einwirkung Gustav Klimts, des bedeutendsten Vertreters des Jugendstils in Wien, bis zum Finden eines eigenen, unverwechselbaren expressiven und symbolischen Stils gegeben. Die Umrisse bilden bald keine versöhnenden Arabesken mehr und die Binnenflächen kein schmückendes Mosaik, sondern sie zersplittern das Bild von innen her, versuchen eine Form aufzubrechen, der sie aber zutiefst verhaftet bleiben.
Immer hat die Zeichnung bei Schiele Vorrang vor der Farbe, auch in seinen linear aufgebauten menschenleeren Landschaften. Das Thema der Erotik tritt in den Aquarellen und Zeichnungen viel stärker hervor als in seinen Ölbildern. Wenn es auch in den frühen Porträts und Figurendarstellungen viele dekorative Elemente gibt – so hat er Aquarelle von Kleiderentwürfen für die „Wiener Werkstätte“ geschaffen – ist er dem Farbenrausch von Klimts Bildnissen nicht gefolgt. Um 1910 gewinnen düstere, morbide Elemente die Oberhand. Seine Figuren zeichnen sich durch ungewöhnliche Körperhaltungen, überlange Gliedmaßen oder auffallende Gestik aus. Im Spiegel wird das Selbstbildnis zur Marionette und eröffnet damit neue Dimensionen. Die nackten Körper wirken durch die unnatürlich verkrampften Stellungen und die brutale Betonung der Geschlechtsteile noch heute beinahe abstoßend auf den Betrachter. Fehlende Extremitäten, auf Torsi reduzierte Körper dominieren. Trüben Tönungen werden grelle, heftige Farben entgegengesetzt, die den Kontrast ins Qualvolle steigern. Die Körper erhalten einen hohen Grad abstrahierender Vereinfachung. Schiele enthäutet gleichsam seine Figuren auf beängstigende, bedrohliche Art, er legt Muskel- und Nervenstränge frei und sucht mit Hilfe „klinischer Befunde“ einen synonymen Ausdruck für Seelenzustände zu gewinnen. Er verwendet Wirbelmotive, dornenartige Zacken und stacheldrahtähnliche Linienstrukturen als beunruhigende, bedrohliche Elemente.
Die wie denaturiert wirkenden Farben des Inkarnats und die eckig hervorspringenden Knochen des „Sitzenden Männeraktes (Selbstdarstellung)“ (1910) suggerieren Auszehrung und Verfall. Ein in Gegenbewegungen komponierter „Hockender weiblicher Akt“ (1910) mit klar durchgeführter Binnengliederung lässt den Körper ockergelb mit wenigen grünen und gelblichen Tönen hervortreten, während der Kopf im riskanten Farbkontrast zwischen dem Orange des Gesichts und dem Lilarot und Blau der Haare gehalten ist. Schieles „Lyriker“ (1911) – die selbstbildnishaften Züge sind offensichtlich – leidet an der Welt, wird unter ihrer Last fast erdrückt. Der geneigte, wie eingepresste Kopf wird durch die aufwärts strebende rechte Hand und den entblößten Körper wie von einem Balken gestützt. Grotesk-unheimlich und armselig zugleich wirkt das „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ (1912) – der Kopf ist gebeugt, die Augen sind nach oben verdreht, so dass das Weiß der Augen hell im sonst dunklen Antlitz leuchtet. Eine Tendenz zum Konstruktiven ist im Aufbau des Körpers des „Stehenden nackten Mädchens mit Strümpfen“ (1914) festzustellen. Die Härte der Linien wird durch die Kolorierung noch verstärkt.
Die Figuren von 1914, dem Jahr des Kriegsausbruchs, gewinnen Plastik und Körperhaftigkeit durch gewagteste Formverkürzungen und –überschneidungen. Eine geheime Verbindung zur Kunst Rodins ist unverkennbar. Das „Liebespaar“ von 1914/15 ist zu einer Bildsäule verschmolzen; die Erregung spiegelt sich in den ausfahrenden Vorsprüngen der Umrissverläufe beider Seiten wider. Dennoch bleiben tragische Vereinsamung und Isolierung vorherrschend, die auch körperliche „Umarmung“ (1912) – Schiele hat den beiden einander umarmenden Figuren einen gemeinsamen Umriss gegeben – nicht zu überwinden vermag. Die Präsenz des Todes wird spürbar. Schon bei Rodin und Munch umarmte die Frau den Tod und lieferte sich ihm aus. Auch bei Schiele sind Kunst und Eros, Leben und Tod, Sehnsucht und Traum untrennbar miteinander verbunden. Die Heftigkeit und Erregtheit in der Haltung und Form der Gestalten, die nervöse Angespanntheit beruhigt sich dann wieder und weicht runderen und fließenderen Formen. Die Porträtstudien seiner Frau Edith, „Diderle“ nennt er sie zärtlich, gehören in der Poesie und Innigkeit der Empfindung zu den schönsten Arbeiten des Künstlers.
Die beiden aneinander geschmiegten Köpfe von „Mutter und Kind“ (1912) – die Augen des Kindes starren entsetzt auf eine feindliche Umwelt, während sich die Mutter in trauriger Resignation abgefunden hat – leuchten aus einem geheimnisvollen Dunkel hervor. Ist hier schon von der Strenge einer Ikone nichts mehr zu bemerken, so erscheint „Mutter mit zwei Kindern“ (1915-17) fast als eine Parodie auf das traditionelle Thema der Pietà. Schiele zeigt eine vom Tode gezeichnete Frau, die ihre beiden Kinder, die sich mit unverhohlener Abneigung anschauen, nicht mehr beschützen kann. Das Bild ist autobiographisch geprägt. Der Vater des Künstlers war das Opfer einer durch Syphilis verursachten fortschreitenden Geisteskrankheit, die zu seiner frühen Pensionierung führte. Seine ein Jahrzehnt jüngere Frau war schnell gealtert, nachdem ihre ersten drei Kinder als Totgeburten zur Welt gekommen waren. Eine Fotografie zeigt sie mit ihren zwei Töchtern und Egon Schiele, der auf dem Schoß seiner Mutter liegt. Der Künstler könnte beim Malen dieses Bildes von dieser Fotografie inspiriert worden sein. Das Kind auf der linken Seite sucht sich noch vergeblich an die Mutter zu klammern, das Kind auf der rechten Seite streckt seine Arme aus und schaut mit großen Augen in die Zukunft. Die Kinder müssen das Leben aufnehmen, aus dem die Mutter scheiden wird.
Als Schieles Frau Edith im Sommer 1918 schwanger wurde, mischte sich in dieses Glück auch die Freude darüber, dass der lange Weltkrieg zu Ende ging. Aber Edith erkrankte unrettbar an jener Grippe, die Europa dezimierte. Schiele zeichnete ein liebevolles Porträt seiner sterbenden Frau. Der matte, angstvoll auf ihren Mann gerichtete Blick der Todkranken lässt seine letzte Zeichnung zu einem menschlich ergreifenden Dokument werden. Drei Tage nach ihrem Tode erlag auch er, erst 28 Jahre alt, der Epidemie.

Am 9. Juni wäre Egon Schiele 125 Jahre alt geworden.