18. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2015

Geschichtsklitterung als Programm

von Bernhard Romeike

Zu den Internet-Publikationen, die außenpolitische Themen behandeln, gehört das ipg-journal. IPG steht für „Internationale Politik und Gesellschaft“. Herausgeber ist die Friedrich-Ebert-Stiftung, die bekanntlich der SPD nahesteht. Auf der Selbstdarstellungsseite des Journals steht prominent ein Zitat von Außenminister Frank-Walter Steinmeier: „Moderne Außenpolitik braucht eine informierte und engagierte Debatte. In Deutschland hat sie hier eine neue Adresse. Ich freue mich auf offene Diskussionen.“ Über sich selbst schreiben die Macher: „ipg-journal versteht sich als engagierte Debattenplattform für Fragen internationaler und europäischer Politik. Wir wollen nicht nur beschreiben, sondern auch Impulse geben durch kritische Interpretationen und Bewertungen. Unser Ziel ist es, durch eine konstruktive Diskussion einen produktiven Meinungsbildungsprozess zu fördern.“
Angesichts dieses Selbstanspruchs verwundert es aber doch – Vorbehalt, dass die Äußerungen stets die der Autoren, nicht die von ipg sind, hin oder her –, dass mit Eifer die eigene, sozialdemokratische Tradition denunziert werden soll. So behauptet der Historiker Jan C. Behrends, der am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung angestellt ist und deshalb schon von Amts wegen Bescheid wissen sollte, die Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs sei ein „Mythos“ gewesen. Der „Wandel durch Annäherung“ sei „schon im Kalten Krieg gescheitert“. Wie bitte? Hatten wir nicht nach den Ostverträgen eine wesentlich weniger gespannte Lage in Europa als zuvor unter CDU-Regierungen? War der Eiserne Vorhang nicht durchlässiger geworden, und zwar in beiden Richtungen?
Stattdessen unterstellt Behrends: „Bonn war bereit, die Ordnung von Jalta anzuerkennen, um Entspannung zu erzielen.“ Zunächst einmal war es nicht Sache der beiden deutschen Staaten, die von ihrer Gründung bis zum „2+4-Vertrag“ 1990 nicht souverän waren, über die europäische Ordnung zu befinden. Sie war ihnen von den Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs vorgegeben, die nun die vier Besatzungsmächte in Deutschland waren. Das sollte der Fachhistoriker für Zeitgeschichte wissen. Bonn stellte sich unter Brandt auf den Boden der Tatsachen, um auf dieser Grundlage neue außenpolitische Spielräume zu erreichen. Und das gelang damals bekanntlich. Behrends aber behauptet, die Ostverträge hätten „Moskaus Hegemonie östlich der Elbe“ zementiert. So ein Unsinn! Moskaus Position an der Elbe war schon durch die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte zementiert; die Westmächte hatten das bereits am 17. Juni 1953 anerkannt, als sie nicht in Ostberlin eingriffen, und die Sowjetunion hatte die Position der Westmächte in Westberlin bestätigt, als sie am 13. August 1961 die Mauer bauen ließ. „Wer eine Mauer baut, will das, was dahinter liegt, nicht nehmen“, wusste schon US-Präsident John F. Kennedy.
Noch weiter treibt Behrends die Denunziation, indem er behauptet: „Der vielbeschworene Wandel aus dem Schlagwort ,Wandel durch Annäherung’ fand nicht statt.“ Wie bitte? Ist denn der Zusammenbruch des Realsozialismus 1989-91 nicht erfolgt? Doch, anerkennt auch Behrends, aber nicht wegen der Ostpolitik, sondern weil die sowjetischen Eliten erkannt hatten, „dass ihr System nicht mehr konkurrenz- und überlebensfähig war“. Aber das war doch Teil des Wandels als politisches und zwischenstaatliches Beziehungsgeflecht statt Abschottung und Hochrüstung! Schon sprachlich und sachlich ist es Unsinn, aus einem „Schlagwort“ einen gesellschaftlichen Wandel ableiten zu wollen. Der kommt allemal aus der Gesellschaft und aus der Politik. Außerdem war der „Wandel durch Annäherung“ stets als langfristige Strategie verstanden worden, die allmählich, langsam und schrittweise gedacht war, nicht als rasche Überwältigungstaktik. Außerdem war das Wesen der Brandtschen Ostpolitik Frieden, nicht Beseitigung der Gegenseite. Im Zeitalter der Atomwaffen gilt, was Brandt so formuliert hatte: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Jenseits des Friedens drohte die Selbstvernichtung der Menschheit.
Behrends will unter dem Label eines sozialdemokratischen Publikationsorgans die ältesten Ladenhüter der CDU-Polemik der 70er Jahre gegen Brandts Ostpolitik verkaufen. Das an sich ist befremdlich genug. Viel schlimmer ist aber, dass er das Wesen der Friedensfrage nicht begriffen hat. So kommt er in seinem Aufsatz (vom 8. Dezember 2014) am Ende auch zu der Folgerung, in Sachen Russlandpolitik des Westens sei heute nicht Ostpolitik, sondern Eindämmung nötig. Die Abkehr von Brandt dient also der Befürwortung neuer Machtpolitik statt einer Verständigung mit Russland.
Noch schärfer akzentuiert Behrends dies in seiner jüngsten Publikation am selben Ort, in der Ausgabe vom 4. Mai 2015, zum Thema: „Erinnerung als Kult des Vergessens“. Darin schreibt er vorausschauend die Moskauer Siegesparade vom 9. Mai 2015 schlecht, zum 70. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus. Es sei „Erinnerung als Kult des Vergessens“. Bereits bei Leonid Breshnew und nun unter Wladimir Putin sei „die Moskauer Siegesparade“ der wichtigste Tag im politischen Kalender. „Angesichts der ungeheuren Opfer der deutsch-sowjetischen Auseinandersetzung und des anschließenden sowjetischen Aufstiegs zur Weltmacht ist das verständlich.“ Da wird nicht nur die sowjetische oder russische Perspektive schlecht-, sondern die NS-Perspektive schöngeschrieben. Oder was ist die „deutsch-sowjetische Auseinandersetzung“? Es war ein Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion. Und Deutschland führte dort einen Vernichtungskrieg, mit der Ermordung von Millionen Menschen und „Verbrannter Erde“. Und was sind „ungeheure Opfer“? Meint Behrends die sowjetischen oder auch die deutschen in diesem euphemistisch „Auseinandersetzung“ genannten Krieg? Es waren 27 Millionen Sowjetbürger, die „im deutschen Namen“ ermordet wurden. Da darf man nicht froh sein, diesen Feind geschlagen und vernichtet zu haben? Russland hat nach Behrends kein Recht auf eine Siegesparade.
Das versucht er so zu begründen: Es handele sich um „selektive Erinnerung und Tabuisierung“, der deutsche Überfall, seine Vorgeschichte und die Jahre 1941 und 1945 würden „nur bruchstückhaft erinnert“. Dann heißt es: „Der Holocaust, die Deportationen zahlreicher Ethnien unter dem Vorwurf der Kollaboration, das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener oder Verbrechen der Roten Armee blieben tabu. Ebenso die gewaltsame Sowjetisierung Osteuropas.“ Hier werden nicht nur Äpfel und Birnen, sondern die verschiedensten Obstsorten durcheinander geworfen. Wieso ist der Holocaust, den die Deutschen unter Hitler begangen haben, ein sowjetisches oder russisches Tabu, das durch die Siegesparade verdeckt wird? Was das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener betrifft: Etwa fünf Millionen Sowjetsoldaten waren in deutsche Gefangenschaft geraten, 3,3 Millionen von ihnen wurden ermordet, vernichtet durch Hunger und schwere Arbeit. Obwohl Deutschland nach schon damals geltendem Kriegsvölkerrecht verpflichtet war, sie gut zu behandeln. Das tat man überwiegend mit französischen oder britischen Kriegsgefangenen, mit slawischen „Untermenschen“ nicht, da begann die Vernichtung bereits im Kriegsgefangenenlager. Darüber hat Bundespräsident Joachim Gauck in diesem Jahr gesprochen. Bei Behrends erscheint das nicht. Er meint die schlechte Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen durch die sowjetische Seite, weil Stalin befohlen hatte, sie als Verräter anzusehen und nach dem deutschen Lager in ein sowjetisches zu sperren. Das gehört zur Geschichte dazu. Aber darüber ist nicht von deutscher Seite zu räsonieren, bevor nicht die eigenen, deutschen Verbrechen benannt sind.
Am Ende meint Behrends: „Europa braucht heute keine Militärparaden, sondern einen kritischen Dialog über die Vergangenheit.“ Nach dem Lesen eines Textes, der so zielgerichtet deutsche Schuld und Verantwortung ausblendet und sie zu gleichen Teilen auf „beide Seiten“ zu verteilen sucht, ist man am Ende doch froh, dass die Siegesparade in Moskau stattfindet. Und nicht in Berlin.