18. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2015

Das Fremde und die Fremden

von Stephan Wohanka

O Deutschland, wie bist du zerrissen
und nicht mit dir allein!
In Kält’ und Finsternissen
Läßt eins das andre sein.
Und hättst so schöne Auen
Und reger Städte viel;
Tätst du dir selbst vertrauen
Wär alles Kinderspiel.

Bertolt Brecht

Fremdes hat hierzulande keinen leichten Stand. Woher kommt die Abneigung, ja der Hass? Aber auch das unkritische Anhimmeln?
Das Fremde hat zwei Gesichter, ein betörendes, verführerisches und ein furchteinflößendes, schreckliches. Für die unwiderstehliche Verlockung des Fremden mag die ungebrochene Lust stehen, in die fernsten Winkel der Welt zu reisen. Nach der Reise bleibt das Fremde fremd, sein Furchteinflößendes, Schreckliches bleibt dort, wo es immer war und wo man sich ihm mit wohligem Schauer (kurz) ausgesetzt hat. Es ist dem Eigenen nicht zuzuschlagen. Auch dann nicht, wenn das Fremde heute manchmal nur noch eine Imitation seines früheren Selbst ist und dem Eigenen in Vielem ähnlich ist …
Doch neben dem Fremden gibt es noch den Fremden! Auch er hat zwei Gesichter, ein betörendes, verführerisches und ein furchteinflößendes, schreckliches. Der Unterschied zum unpersönlichen Fremden liegt darin, dass der Fremde zu uns kommt! Diese Distanzlosigkeit wirkt bedrohlich. Mehr noch – sie kann, wie gesagt, Hass hervorrufen; dadurch, dass der Fremde manchmal aus einer vermeintlich unterlegenen oder auch faktisch noch wenig elaborierten Kultur kommt, die den hiesigen Menschen die Gefahr suggeriert, auf diese zurückfallen zu können. Anders gesagt – es sind der Groll und der Neid, die der in die (westlich-europäische) Moderne integrierte Mensch einem anderen Menschen gegenüber empfindet, der in seinen Augen noch nicht in ebendieser Moderne angekommen ist. Dieser andere hat weniger – Geld, Nahrung, Fleiß, manchmal Bildung; in der Summe weniger von allem, was wir haben, vor allem weniger Erfolg. Daraus folgt die von dem anderen ausgehende – vermeintliche – Drohung, dass dieser diese Rückständigkeit aufholen, ausgleichen will …
Der Fremde steht für unsere Ambivalenz, einerseits weltlüstern und andererseits angstbesessen zu sein. Ihr äußerer Ausdruck ist die Fremdenfeindlichkeit. Sie hat hierzulande eine spezielle Ausprägung; dadurch, dass uns unsere Geschichte – das Gedenken an den 8. Mai 1945 rückte es nochmals nachdrücklich in aller Bewusstsein – doch noch stark beschwert, verunsichert. Das führt zu einem depressiven Verhältnis zu unserem kollektiven Selbst. Mit einem manchmal manischen Trieb zu überzogener (Selbst)Kritik und gegenüber Ausländern einem „positiven“ Rassismus. Die Kehrseite dieser Unsicherheit ist das nationalistisch Überhebliche, Chauvinistische, das sich immer wieder Bahn bricht in Gestalt pöbelnder Neonazihorden und brennender Flüchtlingsunterkünfte.
Der Umgang mit dem Nationalen – nicht Nationalistischen – ist der Punkt: Die manchmal vorauseilende Toleranz (früher war es der vorauseilende Gehorsam), das billige sich Anbiedern mancher Deutschen allem Fremden, Ausländischen gegenüber, ist gerade Fremden unheimlich! Ausländer empfinden diese fortwährende nationale Selbstanfechtung als ausgesprochen störend, ja ihrer Integration abträglich! So sieht das die in Deutschland lebende russische Publizistin Sonja Margolina – und sie geht weiter: „Ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, ist lediglich eine Definitionsfrage. Was der Bundesrepublik jedoch fehlt, ist ein elementares Selbstverständnis als Nation, das alle Einwanderungsländer haben, die deshalb integrationsfähig sind. Die Überwindung des Nationalen ist daher keine Bedingung für eine erfolgreiche Integration, wie die Politik suggeriert, sondern im Gegenteil ein ernsthaftes Hindernis.“
„Selbstverständnis als Nation“ ist – wie der Begriff sagt – ein Verständnis des nationalen, kollektiven Selbst von sich selbst, von der eigenen Eigentümlichkeit also. Selbstverständnis bezieht seine Kraft aus dem Selbst! Es kann daher nur ohne eine wie auch immer geartete „Zuhilfenahme“ oder „Inanspruchnahme“ Dritter gelebt werden! Ist man der Meinung, wir sollten uns als nationales Kollektiv therapieren, dann nicht dadurch, dass wir andere, Fremde anfeinden und abweisen und für die eigene (vermeintliche) Misere schuldig sprechen. Die immer wieder aufbrechende Fremdenfeindlichkeit taugt nicht als Vehikel zu „mehr“ nationalem Selbstverständnis; damit schafft man kein „schwaches“ Selbstverständnis aus der Welt!
Unser Problem ist vielmehr immer noch die eigene Mittelmäßigkeit und Profilierungssucht; auch unserer politischen und intellektuellen Eliten. Deren dominante Neigung ist es noch immer, „Sonderwege“ aufzutun, mindestens jedoch „besser“ zu sein als andere. Und das nicht erst seit heute oder gestern, sondern schon seit Jahrhunderten! Hans Mayer, der renommierte Literaturwissenschaftler, leitete 1977 in einer Rede vom „Deutschen Selbstempfinden“, das „merkwürdig schwache Selbstgefühl von uns Deutschen“, das sich in Selbsthass äußern oder zu Nationalismus aufblähen und in Hass und Gewalt gegen Fremdes und Fremde ausbrechen kann, aus unserer Geschichte her. Die „deutsche Misere“ beginne mit den Bauernkriegen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, setze sich über Verhinderung der Herausbildung einer nationalstaatlichen Basis fort –anders als bei Franzosen und Engländern: Als bei unseren westlichen Nachbarvölkern eine neue Welt mit einer großen Blüte der Kultur sich gegen das Mittelalter durchsetzte, standen, so Hans Mayer, die „Gedanken und Empfindungen“ der deutschen Geistesarbeiter allzu oft „im Schatten einer politischen und gesellschaftlichen Niederlage“ und „im Gegensatz zu den politischen Ordnungen“.
Diese also schon früh nachweisbare Unausgewogenheit zwischen Geist und Macht hat das deutsche Selbstempfinden offenbar an der Wurzel geschädigt. Mit Nachwirkungen bis heute – ich jedenfalls vermisse mancher Orten eine für mich selbstverständliche Identifizierung mit unserem Land, seiner Geschichte, seiner politischen Ordnung, mit der uns eigenen Lebensweise, deren Vorzüge und Freiheiten man ebenso genießt wie man deren Missstände tadelt. Nur eine derartige kulturelle Souveränität kann Grundlage sein für ein gedeihliches Zusammenleben aller mit dem Ziel der Integration der (ursprünglich) Fremden! Das Gegenteil, dieses sich bewusst „klein” und „schuldig” machen respektive sich auf Kosten anderer „entschulden“ zu wollen, zeugt entweder von Schwäche und Minderwertigkeitskomplexen oder – perfide – von grandioser Heuchelei und versteckter Arroganz: Der Kleine, Schuldige oder Unschuldige will der moralisch Große, wenn nicht gar Größte sein!
Nur in der Ablehnung dessen und bei Bewahrung der aus unserer Geschichte zu beherzigenden Warnungen an uns Heutige kann ich ein der Gesundung des nationalen Selbstempfindens zuträgliches Verhalten und einen gelingenden Umgang mit dem Fremden erkennen.