18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

Piketty kontrovers

von Ulrich Busch

2013 veröffentlichte der französische Wirtschaftshistoriker Thomas Piketty ein dickleibiges Buch mit dem Titel „Le capital au XXIe siècle“. Bald darauf erschien das Werk in englischer Sprache in den USA und machte sofort Karriere. Inzwischen liegt es in zahlreichen weiteren Übersetzungen vor. Die deutsche Ausgabe ist im Oktober 2014 erschienen und erlebte seitdem bereits fünf Auflagen. Was macht dieses Buch so interessant und worauf ist es zurückzuführen, dass es in so kurzer Zeit fast schon zu einem Klassiker geworden ist? Was ist das Geheimnis seines so überaus großen internationalen Erfolgs?
Es sind mindestens fünf Punkte, die hierauf eine Antwort geben.
Erstens haben die Verteilungsungerechtigkeit und soziale Polarisierung in der Welt zuletzt einen Stand erreicht, der sie zu einem allgemeinen Problem werden lassen, das heftig in der Öffentlichkeit diskutiert wird und wofür man nach einer „Erklärung“ sucht. Die Welt wartete also geradezu auf Pikettys Buch.
Zweitens erweist es sich als erforderlich, dass diese Erklärung über die traditionelle politische Umverteilungsrhetorik linker Parteien hinausgeht, also wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Dafür ist Piketty als seriöser Wirtschaftswissenschaftler genau der richtige Autor.
Drittens durfte das Buch nicht so abgefasst sein, dass es nur von Insidern der scientific community rezipiert würde; vielmehr musste es verständlich sein und einem großen Leserkreis zugänglich. Das heißt, es durfte nicht als eine wirtschaftstheoretisch-ökonometrische Analyse daherkommen, sondern musste historisch, sozialwissenschaftlich, literarisch und so weiter angelegt sein. Hierin genau liegt Pikettys Stärke.
Viertens musste das Werk sich der neuesten Forschungsmethoden bedienen (Stichwort: big data), ohne die Leser damit zu quälen. Piketty löste dieses Problem, indem er seinem Text einen umfangreichen online-Anhang hinzufügte.
Und fünftens musste mit einem solchen Buch ein extrem hoher Anspruch vertreten werden, damit es sich in die Reihe der Werke von Weltgeltung einreiht. Dies wurde mit dem sich am Hauptwerk von Karl Marx orientierenden Titel maximal erreicht.
Indem Piketty diesen Anforderungen in allen Punkten genügt, konnte er einen Bestseller landen – ein Buch, das sowohl ein historisches als auch ein ökonomisches Buch ist, das Ökonomen wie Historiker begeistert aufnahmen und das sich zugleich an einen breiten Leserkreis wendet.
Seinen großen Erfolg verdankt es nicht zuletzt der Tatsache, dass es auf der Grundlage riesiger Datenmengen, aber unter Verwendung durchaus bekannter und in der Ökonomie üblicher Theorieansätze und Denkmodelle geschrieben ist. Die Form jedoch, in der die Wirtschaftsgeschichte der zurückliegenden drei Jahrhunderte hier behandelt wird, ist ungewöhnlich: Piketty erzählt eine Geschichte, ausgeschmückt mit Beispielen aus der klassischen Literatur (Balzac, Austen, James und andere), untersetzt mit einigen wenigen Gleichungen und Daten. Es gibt zwar 97 Abbildungen (charts) in dem Buch und 18 Tabellen, aber die versteht jeder, der über ein statistisches Grundwissen verfügt.
Trotz des gefälligen Stils sind die Aussagen, Feststellungen und Schlussfolgerungen in dem Buch beeindruckend und von politischer Sprengkraft. Dies ist ein Grund dafür, dass Piketty nicht unangefochten geblieben ist, sondern eine kontroverse Debatte ausgelöst hat. Ein anderer Grund dafür dürfte seine unorthodoxe Herangehensweise an Fragen von Wirtschaft und Finanzen sein, die von vielen seiner Fachkollegen aus der Zunft der Ökonomen nicht geteilt wird. Und dann gibt es natürlich noch die handfesten Interessen der Reichen, die alles dafür tun würden, um eine höhere Besteuerung ihrer Einkünfte und Vermögen, wie Piketty sie vorschlägt, zu verhindern. Dies sind gleich drei gewichtige Veranlassungen dafür, nicht nur das Buch von Thomas Piketty zu studieren, sondern auch die Kontroverse um dasselbe zur Kenntnis zu nehmen und zu verfolgen.
Die sozialwissenschaftliche Zeitschrift Berliner Debatte Initial hat sich in ihrer jüngsten Ausgabe dieser Problematik angenommen und acht aktuelle Texte zu Pikettys Werk veröffentlicht. Damit wird interessierten Lesern ein Einblick geboten in die gegenwärtig insbesondere in den USA geführte Diskussion um soziale Ungleichheit, Spitzenverdiener und Top-Vermögende. Darüber hinaus werden aber auch theoretisch strittige Punkte in Pikettys Argumentation deutlich und Defizite in der Forschung zur Entwicklung von Reichtum und Vermögen herausgearbeitet. Hervorzuheben ist des Weiteren, dass die Würdigung von Pikettys Arbeit durchaus Kritik und das Vertreten anders lautender Standpunkte einschließt. So bekennt sich zum Beispiel der bekannte Wirtschaftswissenschaftler N. Gregory Mankiw zu den extrem hohen Einkommen von Spitzenmanagern und Vermögenden und weist die Absicht, diese künftig höher besteuern zu wollen, zurück. Andere Autoren setzen sich genau damit auseinander und entwerfen Modelle, wie eine höhere Besteuerung praktisch umgesetzt werden könnte.
Das Heft erweist sich durch den Abdruck dieser Kontroverse im gegenwärtigen Meinungsspektrum nicht nur als eine höchst aktuelle Lektüre, es hilft auch den linken Umverteilungsbefürwortern in Deutschland, ihre Vorstellungen stärker theoretisch zu unterfüttern und damit diskursreif zu machen.

Berliner Debatte Initial, Heft 1/2015, 164 Seiten, 15,00 Euro; lieferbar über: http://shop.welttrends.de oder bestellung@berlinerdebatte.de.