18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

Jahrgang 1964

von Heino Bosselmann

Der Jahrgang 1964 ist im Westen wie Osten Deutschlands der stärkste. Quantitativ, versteht sich. 1.357.304 Lebendgeborene. 2002 waren es nur halb so viel!
Wir saßen in vollen Klassen und legten Anfang der Achtziger unser Abitur ab. Dreißig Jahre her und gerade Anlass zu allerlei Begegnungen.
Es mag, leider, einfach am Alter liegen, aber sprechen wir ehemaligen DDR-Abiturienten dieser Jahrgänge jetzt miteinander, haben wir stets das Gefühl, ein, zwei Jahrzehnte allzu schnell verloren zu haben.
Resümee: Nach der Reifeprüfung ’82 standen die Jungen von uns eineinhalb oder drei Jahren in den Streitkräften. Leonid Breschnew starb kurz nach unserer Einberufung am 10. November 1982. Trauerappelle auf Exerzierplätzen im Nieselregen. Was darauf folgte, war ein weltgeschichtlicher Abgesang, den wir eher intuitiv als expressionistische Grundstimmung, als ein sozialistisches Weltende, wahrnahmen.
1984 und 1985 entlassen, reichte es gerade noch für ein Studium, in das man anders hinein- als herauskam, denn es blieben gerade so fünf Jahre, bis der Spuk oder – je nach dem – die Utopie vorbei war. Wie wir auch zur DDR gestanden hatten: Wir erlebten den Untergang des Landes, in das wir hineingeboren waren, zwangsläufig nicht nur als Chance, sondern ebenso als Verunsicherung, manche gar als Niederlage.
In der Mensa der Universität Leipzig sprach während turbulenter Tage 1990 einer aus, was ich mir merkte: Jetzt sind wir so was wie die Südstaatler 1865. – Historisch keine stimmige Parallele, aber alltagskulturell in eigenwilliger Übertragung nicht ohne Charme. Die Melancholie des Grand Old South und die Ostalgie des Beitrittsgebietes.
Ja, die Demokratie: Plötzlich alles sagen, vertreten, publizieren können – mit der Grunderfahrung, dass es dann nicht so skandalträchtig interessiert wie im vormundschaftlichen Staat, der noch auf jeden Kritiker mit einem Allergieschub reagierte. Ja, die Marktwirtschaft: Alles kaufte ein, alles redete von Geld, erstmalig, und wer gerade Bürger geworden war, stellte fest: Mehr noch als dies war er jetzt Konsument mit Verbraucherschutz. Ja, die Freiheit: Wenige engagierten sich politisch; die meisten waren eher erlöst, nicht mehr alles mitmachen zu müssen.
Während wir etwas verzagt mit Existenzrettung beschäftigt waren, tauchten die Lokatoren aus dem Westen auf und machten gemeinsam mit der Treuhand alles klar. Jetzt höre ich: Weshalb haben wir uns nicht früher selbständig gemacht, Häuser gekauft, Firmen gegründet? Einfach nicht cool genug gewesen …
Die mathematisch-naturwissenschaftlich Talentierten von uns stiegen durchaus als Ingenieure in große Konzernen ein und kamen als kompetente Praktiker zurecht. Vergleichsweise viele wurden Lehrer und sahen im Neuen eine Chance, bis sie mitbekamen, dass die neue, die demokratische Schule eher etwas deklarierte als leistete.
In den Neunzigern waren wir junge Dreißiger, und es schien, als trete das Politische noch weiter hinter das Wirtschaftliche zurück. Erst „New Economy“, temporeiche Jahre, digitale Revolution, immaterielle Waren, die Kurve des DAX auf den Titelseiten gleich neben dem Wetterbericht, weil plötzlich alle Welt in Aktien machte. Selbst Pleitiers. Ergebnis: Dotcom-Blase und Penny-Stocks. Dann Agenda 2010: „Wir werden die Leistungen des Staates kürzen.“ Man bleibe also, dachten wir Vierziger, besser bei seinen Leisten, arbeite beflissen weiter und sehe zu, dass man durchkomme.
Mittlerweile haben wir uns immer mal begegnenden Abiturienten von damals den Eindruck, wir wüssten nun endlich ungefähr, wie es läuft. Und es ist verdammt langweilig geworden. Wir mögen uns täuschen, aber wir reden wieder von Stagnation und Resignation, wie nach Breschnews Tod, freilich ohne das eine System mit dem anderen vergleichen zu können. Mag sein, wir erleben gar einen ideellen Stillstand, der nicht mehr endet, ganz so, wie das demographische Absterben unumkehrbar scheint. Mit dem Menschen geht die Kultur. Nur bricht nichts sichtlich zusammen, so wie in Leipzig, Greifswald und eigentlich allen anderen DDR-Städten in den Achtzigern. Im Gegenteil: Die Fassaden werden immer blanker und steriler. Ja, die Fassaden! Mancher Niedergang kommt ohne Ruinen aus. Die „Deutschland AG“ boomt, heißt es. Eine Wachstumsmaschine! Was wächst außer ihr, würde der lesende Arbeiter Bertolt Brechts fragen.
Und wir haben eine Bundeskanzlerin und einen Bundespräsidenten aus dem Osten. Er noch mehr als sie redet eindringlich von Freiheit. Sicher, die Freiheit, denken wir: Schwieriger Begriff, aber flott zu gebrauchen. Doch wer fängt noch Entscheidendes damit an? Politik versuchen wir unseren Kindern zu erklären, aber meist interessiert sie das nicht. Die Nation? Ein Wort wie in Frakturbuchstaben. Die DDR in ihrer tragisch kecken Weise wollte unbedingt eine Nation sein. Für sich. Dass die Bundesrepublik selbst einen solchen Anspruch aufgibt, gilt hingegen als modern. Losungswort: Europa! Hoffentlich nicht als gerontologischer Kontinent.

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