18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

Die Nutznießer des Mordens

von Margit van Ham

Als der Historiker und vielen auch als Kolumnist der Berliner Zeitung bekannte Götz Aly Mitte Februar sein neues Buch „Volk ohne Mitte“ vorstellte, herrschte Chaos am Eingang des Berliner Verlages. Viele hundert Interessierte kamen zur Lesung, hunderte mussten weggeschickt werden, weil der große Saal gefüllt war. Dabei ist sein Thema kein leicht Verdauliches. Er legt immer wieder den Finger in die Wunde der deutschen Vergangenheit und ihr Fortwirken in der Gegenwart. Wer zu seinen Veranstaltungen geht, will verstehen, warum und wie die Verbrechen des Nationalsozialismus möglich wurden. Die vorhandenen Erklärungsmuster lassen zu viele Lücken.
Das Buch enthält Essays und Vorträge (von Ludwig Börne, über Judenvernichtung und die Bereicherung der Deutschen, den Ökonomen Wilhelm Röpke, bis zur Arbeit von Historikern an den „Vorstufen der Vernichtung“ und der von Hirnforschern der Vorgängerinstitute der Max-Planck-Gesellschaft), die sich trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte mit denselben zentralen Fragen beschäftigen: „Wie haben die Deutschen 1945 so enden können? Wie lässt sich die extrem kurze, exzessiv verbrecherische Phase des Dritten Reichs im Kontinuum der deutschen Geschichte verstehen? Wie konnten – je nachdem – unsere Väter, Großväter oder Urgroßväter derartige Grausamkeiten begehen, hinnehmen oder einfach nicht sehen wollen? All das, obwohl sie weder vorher noch nachher kriminell oder psychisch auffällig geworden waren, obwohl sie moralisch und intellektuell nicht wesentlich anders ausgestattet waren, als wir Heutigen es sind. Wie verhielten sie, wie verhielt sich die Gesellschaft hernach?“
Götz Aly reibt sich an der deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik, die seit 70 Jahren daraus hinausläuft, den Massencharakter des Nationalsozialismus zu leugnen. Es sei zwar menschlich verständlich, die Schuld an den „in ihrer Intensität unvergleichlichen Verbrechen“ möglichst wenigen und fernen Menschen anzulasten, aber lernen lasse sich daraus nichts. Abstraktionen, Wortschablonen wie „die Nationalsozialisten“, „die SS-Schergen“, „die Diktatur“, „die völkischen Ideologen“ verhelfen den Nachgeborenen zu dem Gefühl, sie hätten mit dem Geschehen nichts zu tun.
In mehreren Beiträgen beschreibt Aly detailliert, wie sich die „normalen“ Deutschen in die Verbrechen verstrickten, wie Neid und Habgier beim Wegsehen halfen, als die Juden deportiert wurden und man schließlich den Nutzen aus den freigewordenen Arbeitsplätzen, dem Verschwinden von Konkurrenten, den günstigen Kaufgelegenheiten bei „Volksauktionen“ (es wurden Hausrat und Wäsche, Eingewecktes und selbst Marmeladenvorräte versteigert oder verkauft) zog. „Wer einmal direkt oder indirekt von der sogenannten Verwertung nichtarischen Eigentums profitiert hatte […], der wollte vom Schicksal der Enteigneten nichts mehr wissen, dem war es zur Besänftigung des eigenen Gewissens recht, wenn die verbliebenen Juden irgendwann, irgendwie verschwanden.“ Er beschreibt, wie rund 100.000 Hamburger Frauen „Judengut“ aus Holland ersteigerten – gedacht als Aufmunterung für die von Bombenangriffen schwer getroffenen Einwohner. Man bekommt bei diesen Details eine Ahnung vom Geflecht der Verstrickung der Menschen. „Das Eigentum der Juden in den besetzten Ländern Europas wurde zugunsten fast aller Deutschen sozialisiert. Am Ende hatte jeder Wehrmachtsoldat einen Bruchteil davon in seinem Geldbeutel, jede deutsche Familie Speisen auf ihrem Teller, Kleidungsstücke im Schrank, die zu einem gewissen Teil davon bezahlt worden waren. Vom Säugling bis zum Greis, vom Unpolitischen bis zum begeisterten Nazi profitierten sie alle in einer unaufdringlichen, schwer erkennbaren Form vom Mord an den europäischen Juden.“
Selbst der Krieg brachte zunächst Vorteile: Die Frauen erhielten einen großen Teil des Gehalts ihrer Männer, verfügten über mehr Geld als je zuvor, Soldaten schickten/brachten in großer Menge Waren nach Hause, halfen so Versorgungslücken zu schließen – auf Kosten der Wirtschaft und Versorgung der besetzten Länder. Von den riesigen Summen, die für die Besatzung zu zahlen waren, ganz abgesehen. Millionen sowjetischer und polnischer Zwangsarbeiter zahlten doppelte Steuern, doppelte Sozialversicherungsabgaben und stabilisierten so das deutsche Solidarsystem. Hitler schonte den sogenannten kleinen Steuerzahler und gewährte den „arischen“ Bedürftigen selbst im Krieg soziale Wohltaten; im November 1941 wurden die Renten um 15 Prozent erhöht. Hitler konnte sich so zumindest einer passiven Loyalität erfreuen.
Diese Verquickung von sozialer Wohltat und Verbrechen ist wohl einer der wichtigen Aspekte, um die NS-Zeit zu verstehen. In einer Kolumne hatte Aly beschrieben, wie schon 1933 die Macht gesichert wurde – nicht vor allem mit Repression, sondern mit Sozialmaßnahmen, die das Leben vieler damals deutlich erleichterte. Aly schreibt: „Das Böse entsteht nicht allein aus dem Bösen. Auch das Gute kann ungemein Böses bewirken: Gute Bildungspolitik, schnelle wirtschaftliche Mobilisierung, massenhafter Aufstiegswille, sozialpolitischer Fortschritt […] trugen zu den Ängsten, Brüchen und national-sozialen Revolutionen und Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts entscheidend bei. Das späte Kaiserreich und die Weimarer Republik ermöglichten hunderttausenden eine bessere Schul- und Berufsausbildung.“ Diese neu Aufsteigenden stellten 1933 „die überaus junge, unsichere, jedoch tatendurstige Elite des Dritten Reiches“. Es sei eine ungemütliche Einsicht, aber ohne sie könne man die Ursprünge des Nationalsozialismus und seine ungeheuerlich zerstörerische Kraft nicht vollständig erklären.
Götz Aly verweist unnachgiebig auf das Mitmachen der Massen (einschließlich der Akademiker), belässt es nicht bei der Schuld der „Großen“. Er nutzt die Figur des Alfred Fretwurst (aus Uwe Johnsons „Jahrestage), des rücksichtslosen sozialen Aufsteigers, die sich biegt, jeden Regimewechsel mitmacht und davon profitiert, als Bild. Dieses Bild ist unbequem, provozierend, wer sieht schon seine Vorfahren oder gar sich selbst gern solcherart charakterisiert. Die Gaus’sche These „vom Recht auf Anpassung“ ist da weit nachsichtiger. Aber wo sind die Grenzen?
Fretwursts kann man sicher überall auf der Welt finden. In diesem Buch gehe es jedoch um die Deutschen, antwortete Aly auf eine Frage während der Lesung des Buches mit dem Untertitel „Zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus“.
Ein wichtiges, sorgfältig recherchiertes und gut geschriebenes Buch, das zum Nachdenken über die Kämpfe von heute anregt.

Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 265 Seiten, 21,99 Euro.