18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

„Die Näherin der Sterne … näht ohne Naht und Saum und Zwirn“.
Eine sprachphilosophische Betrachtung

von Werner Sohn

„Für das Kind im Menschen“, lässt Martin Heidegger den Lehrer in den „Feldweggesprächen“ (1944) bemerken, „bleibt die Nacht die Näherin der Sterne.“ Auch ohne Gefühl für das Kind im Erwachsenen und ohne Kenntnis des vollständigen Gesprächs wird man im Zitat kaum den metaphorischen Gehalt übersehen, durch den der Philosoph sich der geheimnisvollen Wirklichkeit des noch sichtbaren Allerfernsten zu nähern bemüht, nachdem er mithilfe der drei Gesprächspartner (Lehrer, Gelehrter, Forscher) über das aus nur einem Wort bestehende Fragment des Heraklit gegrübelt hat. Diese eigenartige „Näherin“ fügt, was wörtlich nur schwer vorstellbar ist, zusammen „ohne Naht und Saum und Zwirn.“ Aus philosophischer Sicht unerlässlich ist, dass die „Näherin“, die wir Heutigen vielleicht lieber als besser qualifizierte Schneiderin – anerkannter Ausbildungsberuf mit Tradition – eingeführt hätten, eben eine solche nicht sein kann. Denn Heidegger will überdies auf ein Nähen ohne Schnitt und Muster hinaus, ein Nähen mit Nähe: Die Nacht sei „die Näherin, weil sie nur mit der Nähe arbeitet“1. Ein wundervolles romantisches Bild für den mit metaphysischem Schauer betrachteten gestirnten Himmel!
Wir wollen es auch durch „Vernünfteln“ nicht stören. Erlaubt sein sollte aber die unter dem Gesichtspunkt des modernen Gendermainstreaming von der gesamten internationalen Heideggerforschung bislang ungestellte Frage, ob „die Nacht“, also das dunkle, um nicht zu sagen finstere oder gar bedrohliche Element des 24-Stunden-Takts, nicht auch ein „Näher“ hätte sein können? Oder zeugt die Wahl des Femininums gar von den Stereotypen eines allzu männlich argumentierenden Philosophen, dem die Herstellung von Nähe etwas zutiefst Weibliches bedeuten muss? Man wird dem schwäbischen Denker zwar zugutehalten, dass unsere Wörterbücher den Näher nicht zu kennen scheinen und man in Duden und Wahrig bis zum heutigen Tage – nach unserem kleinen Essay wird sich das freilich ändern – nur die Näherin zu nennen bereit ist. Und dies, wo gerade die Dudenredaktion eine geradezu manische Beflissenheit bei der Angabe von Paarformen zeigt! Heidegger mag schließlich in seinem Leben manchen Schneidern, aber stets nur Näherinnen begegnet sein, sodass ihm einfach nicht in den Sinn kommen konnte, das „Nähende“ der Nacht anders zu personalisieren denn als Frau.
Hier nun hören wir Einwände, vorzugsweise von Verwaltungsjuristen, (jüngeren) Deutschlehrern und anderen Sprachkundigen. Wer die Nacht als nähende Person bezeichnen wolle, könne gar nicht anders, als dies mit dem Wort „Näherin“ zu tun, weil – die Nacht! Man sage schließlich auch, dass die Deutsche Bahn in Bezug auf Altglascontainer, die sich auf Bahngelände befinden, „Besitzdienerin“ sei. Nun, das hört man zwar nicht gerade oft2 – auch hat der Gesetzgeber den § 855 BGB, wo vom „Besitzdiener“ die Rede ist, noch nicht einer modernen Genderkorrektur unterzogen und wird es auch kaum tun –, aber man mag es wohl neuerdings in einschlägigen Schriftsätzen und Abhandlungen gelegentlich bereits lesen. Auch imponiert im Juristen- und Verwaltungsdeutsch in den letzten Jahrzehnten eine wahre Flut von weiblichen Rechtspersonen, die alles andere, nur keine Frauen sind. Kommt das vom Feminismus? Ist das Gendermainstreaming? Ja und nein. Frühzeitig ist der Feminismus unter der Parole angetreten, Frauen in der Sprache sichtbar machen zu wollen. Das überzeugte nicht nur im akademischen Leben. Den Erfolg erkennt man unter anderem an Millionen Stellenanzeigen – hierunter auch solchen, die „Näherinnen oder Näher“ suchen. Sichtbarkeit dieser Art herrscht in durchweg allen Verwaltungstexten, Vereinssatzungen, Formularen, Korrespondenzen, öffentlichen Ansprachen und politischen Verlautbarungen. Zurückgeblieben sind nur die Zeitungen, da sie glauben, Platz sparen zu müssen oder die schnelle Lesbarkeit könne leiden. Sie leisten Abbitte auf andere Weise. Frauen sind also binnen kürzester Zeit in der Sprache „sichtbar“ geworden, eine sprachpolitische Meisterleistung, die ihnen auch der überzeugte Mann nicht neiden wird.
Freilich muss sich der engagierte Sprachfeminist fragen, ob durch die mechanische Verbindung des Suffix -in mit dem grammatischen Genus Frauen in der Sprache nicht doch wieder unsichtbar werden. Wie das? Nun, wenn etwa die Universität Freiburg nach dem Ableben des Nachlassverwalters Hermann Heidegger sodann als „Nachlassverwalterin“ Unveröffentlichtes des großen Denkers herausgeben sollte, würde sie zur „Herausgeberin“. Vielleicht hätten aber Frauen hierbei gar nicht mitgewirkt? Umgekehrt firmierte das Deutsche Literaturarchiv Marbach als „Herausgeber“ (so wie Hermann Heidegger), gäbe es hier auch keinen einzigen Mann, den man dieser Herausgeberschaft zuordnen könnte.
Das sei zwar misslich, täte vielleicht der (junge) Deutschlehrer mit strengem Blick erwidern, aber unvermeidlich, denn hier hätten wir es nun einmal mit der Norm der (grammatischen) Kongruenz zu tun. Wenn also etwa bestimmte Frauen Hoffnungsträger sein sollen, müssten eben „Strafrichterinnen als Hoffnungsträgerinnen“3 bezeichnet werden, auch wenn sie dann nicht mehr die besseren Richter sein könnten.4
Ob Frauen oder Männer – also qua Geschlecht – bessere Richter sind, mag eine schwer zu klärende oder vielleicht unseriöse Frage sein, die bei einer Umkehrung der Fragerichtung – zum Beispiel: Sind Männer die besseren Köche? – von manchen vielleicht sogar als „sexistisch“ empfunden würde. Zu stellen ist sie nur vor dem Hintergrund der Geltung des generischen Maskulinums.
Mit diesem Thema, das manchem unter dem Einfluss von Gendermainstreaming Heideggers „Nacht als Näherin“ ebenso selbstverständlich erscheinen lassen mag wie dem zeitgemäßen Verwaltungsjuristen die Deutsche Bahn als „Besitzdienerin“, beschäftigte sich gleich die erste Duden-Grammatik nach dem zweiten Weltkrieg. Diplomatisch lässt sie für uns Sprachteilnehmer bis zum heutigen Tage offen, ob die Autoindustrie besser der beste Abnehmer oder die beste „Abnehmerin“ für Kunststoffe sei. Wer die zweite Möglichkeit wählt, stützt sich allemal selbstbewusst auf formale Kongruenz, den „Geschlechtsartikel“, sei der Abnehmer nun eine Frau oder nicht oder überhaupt nicht als Person vorstellbar. Wer „Frauen in der Sprache“ durch solche feminisierenden Endungen nicht gerade unsichtbar machen will, sollte besser den Abnehmer wählen und etwa die Frau als „starke Partnerin an meiner Seite“ bezeichnen, nicht aber die Versicherung XYZ, die ein „starker Partner“ bleiben dürfen sollte. Grammatisch steht neben der Kongruenz eine „Konstruktion dem Sinne nach“, und zwar in dem Sinn, dass ein Ding eben keine Person ist.
Es war einmal … lange vor der neuen Zeit, das heißt vor Gendermainstreaming, als es noch den Ehegatten und die Ehegattin gab und beide Gatten sein konnten. Da wusste man das. Auch eine Kundin konnte beruhigt König sein. Die Polizei war „Freund und Helfer“, ohne sich um ein (angebliches) Gebot der Kongruenz zu kümmern. Die Polizei und mit ihr die Sprachgemeinschaft wussten noch um die Konstruktion dem Sinne nach, nämlich den der freundschaftlichen Bindung. Da sie nicht mehr Freund sein darf und als „Freundin“ Anlass zur Karikatur gäbe, ist der schöne Spruch von den Werbeofferten der Polizei verschwunden und kommt nur noch in Sonntagsreden konservativer Innenpolitiker vor.
Die entscheidende Bresche für die Suffixflut (-in) haben jedoch nicht die Sprachfeministen und ihre juristischen Mitstreiter geschlagen, sondern Dichter und Philosophen. Für den zeitgenössischen Philosophen Leopold Ziegler ist die Natur kein „sicherer Lehrmeister, sondern ein flackerndes Irrlicht“5, und Jakob Böhme, der geschlechtssensible Görlitzer Denker, wählt mit Bedacht die „Natur als Lehrmeister“, sieht aber den „einfältigen Glauben“ als „Närrin“ verachtet.6 Für den jungen Hegel soll sich die Religion dem Volke nicht als „beschwerliche Hofmeisterin“ darbieten. Freude, Fröhlichkeit und Anmut gelten seinem griechischen Genius jedoch als „Diener“.7 Hier erkennen wir noch eine Konstruktion dem Sinne nach. Doch hatten andere damit augenscheinlich nichts im Sinn! Eine Sprachphilosophie mit dem Hammer betreibt zuweilen der kränkelnde Hölderlin, der die Nacht, „die Erstaunende“, gar eine „Fremdlingin“ sein lassen will, ein Missgriff, wie ihn selbst der Feminismus der zweiten Welle der deutschen Sprachgemeinschaft (noch) nicht zugemutet hat. Andere wie Rilke folgen ihm darin. So konfrontiert er den erstaunten Leser unversehens mit der Behauptung, dass die Dichterin Sappho nicht nur „den zeitlichen Zweck des Geschlechtes durchbrach mit seiner unendlichen Absicht“, sondern auch „den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied“ gesungen haben soll.8 Gleichwohl zeichnen beide Poeten auch für die schönsten Verse deutscher Lyrik verantwortlich.
Nicht bei jedem rätselhaften Sprachgebrauch mag sich der Gebraucher sehr viel gedacht haben. Dann hilft ihm, verlockt oder naseweist ihn die Sprache selbst. Sie ist wie eine schon sehr alt gewordene, erfahrene und zugleich quicklebendige Dame, die freilich auch manche Blessuren hat verwinden müssen.

Der Sozialwissenschaftler Werner Sohn, Jahrgang 1950, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kriminologischen Zentralstelle e. V. und publizierte die philosophische Schrift „EPICTETUS. Ein erzkonservativer Bildungsroman mit liberalen Eselsohren“. Sohn lebt in Wiesbaden.

  1. Zit. aus: Martin Heidegger, Gelassenheit. 14. Aufl., Stuttgart 2008 (1959)
  2. Das Wortschatzportal der Universität Leipzig kennt „Besitzdienerin“ noch gar nicht, während „Besitzdiener“ immerhin sogar der Häufigkeitsklasse 22 (von 25) angehört.
  3. Titel eines Buches von Regine Drewniak (2003).
  4. Titel eines Aufsatzes von Regine Drewniak (1991): „Sind Frauen die besseren Richter?“ Die feministische Juristin Ulrike Schultz titelte vorsichtiger, wenngleich nicht besser: „Richten Richterinnen richtiger?“ (2005)
  5. Zit. aus den Gesammelten Werken, Bd. 6, S. 94.
  6. Zit. aus Jakob Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, hrsg. von G. Wehr, Wiesbaden 2013 (XXIII,11; XXVI,137).
  7. Zit. aus Georg W. F. Hegel, Recht, Staat, Geschichte: eine Auswahl aus seinen Werken, hrsg. von F. Bülow, Stuttgart 1955 (Tübinger Fragment, S.72, 74).
  8. Zit. aus Martin Heidegger, Gesamtausgabe Band 75, hrsg. von C. Ochwadt, Frankfurt am Main 2000 (Zu Hölderlins Elegie „Brod und Wein“, S. 49):
    „die Schwärmerische, die Nacht, kommt
    Voll mit Sternen …
    Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
    … traurig und prächtig“
    Rainer M. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt am Main 1910 (S. 188f).