18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

Querbeet (LII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal 33 Berliner Liebhaber, eine Brecht-Posse in Absurdistan und ein Findling im Unterholz…

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33 Liebeserklärungen auf 333 Seiten, und alle haben mit Berlin zu tun, und mit Berlinern – was für ein Buch! Und was für eine herrliche Idee, 33 bekannte bis berühmte Berliner schreiben zu lassen über 33 teils nicht mehr so ganz bekannt-berühmte, teils aber noch sehr viel mehr, ja geradezu überwältigend oder unsterblich berühmte Berliner – die freilich allesamt längst tot sind. Und doch weiter wirken.
Als geborener Dresdner bin ich einigermaßen neidisch auf diese wunderbare und nicht so hopphopp zu realisierende Idee der theaterkritischen Journalistin Irene Bazinger und des kulturmanagenden Juristen Peter Raue, einen solchen mit wirklich Wissenswertem wie köstlich Anekdotischem angefüllten Schmöker zu machen unter dem kessen Titel „Wir Berliner!“.
Die 33 Autoren sind durchweg keine professionellen Literaten, sondern Promis aus unserem hauptstädtischen Kunst-, Wissenschafts- Wirtschafts- und Politikbetrieb. Man kann sich vorstellen, wie Frau Bazinger und Herr Raue in ihren Netzwerken gewühlt haben, um die Texte zu kriegen. Nicht, weil die Texter keine Lieben hätten unter all den großartigen Altvorderen ‑ von Marlene Dietrich bis Willy Brandt, Estrongo Nachama bis Dore Hoyer, von James Simon, Luxemburg, Litfass, Knef, Heartfield, Kleist, Bois, Held, Tucholsky oder Einstein bis Zille. Doch über eine unendliche Bewunderung, gar über eine Liebe zu schreiben, das ist ein anderes. Klaus Hoffmann, Romy Haag, Gregor Gysi, Hans Wall, Katharina Thalbach, Heinz Dürr, Maren Kroymann, die Trissenaar, der Matthes, Neuenfels, Thierse, Flimm und die anderen 21 Stars von jetzt haben es sich, dem Himmel nebst den Herausgebern sei Dank, nicht nehmen lassen.
So haben wir denn ein selten köstliches, auch ein fein witziges, keck ironisches, teils auch wehmütig-melancholisches oder auch schon mal sentimentales (von jeglicher blind-tumben Anbeterei aber völlig freies) Berlin-Brevier, das die längst Von-uns-Gegangenen äußerst lebendig zurück holt. – Freilich, „Wir Berliner!“ (mit frechem Ausrufezeichen!), das sind ja nicht nur diese 33 – wir warten also auf Fortsetzungen. Sowie auf den Klau der so genialen wie simplen Bazinger-Raue-Idee. Ich meine, dass jemand sich aufrafft und ein „Wir Dresdner!“ oder „Wir Hamburger!“ oder „Wir Münchner, Kölner oder Stuttgarter!“ macht.
Nebenbei bemerkt: Die beiden schlauen Herausgeber lieferten selbst je ihre (auf eine beschränkte) Lovestory: Die Bazinger feiert den Eisbären Knut, der Raue den von mir, das sei hier gestanden, seit langem still verehrten, tragisch umflorten, großen, übergroßen Mäzen James Simon, ohne den wir nicht nur die Nofretete nicht hätten. Auch so ein – banal gesagt: informatives –, darüber hinaus jedoch: vornehmes Herzensstück.

Bazinger & Raue (Hrsg.): Wir Berliner! Prominente über Prominente, Verlag Quadriga, 336 Seiten, 19,99 Euro.

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In der Berliner Brecht-Erben-Burg tobt mal wieder der Irrsinn: Denn wenn schon Brecht-Tochter Barbara Schall die Lizenz an Frank Castorf gibt, Papas „Baal“ in München zu inszenieren, dann weiß sie natürlich wie jeder im Theater ganz genau, dass Castorf den Text nicht einfach nachbuchstabieren, sondern dass er kräftig am Original herumdoktern wird. Angeblich hat die Hohe Hüterin der Brecht-Texte das Castorf-Brecht-Script sogar weit vor der Premiere gesehen, aber erst danach via Verlag Einspruch erhoben. Die Theaterwelt tippt sich an die Stirn und fordert endlich eine Reform des Urheberrechts; ansonsten sollten die Spezies des verwegenen Regisseur-Theaters ihr Interesse an Brecht verschieben auf nach 2026; da nämlich erlöschen die Rechte der Erben. Dabei sagte der blindwütig verehrte „Papa“ weiland 1955, auch im Theater müsse „das Prinzip der Entwicklung“ angewandt werden. Tja, Prinzip ist halt ein dehnbarer Begriff… – Inzwischen wurde die kostspielige „Baal“-Produktion zum Berliner Theatertreffen eingeladen; nun ist sie verboten. Nur noch zwei Mal darf sie gnädigerweise gezeigt werden. Zwei Stimmen zu dieser Ballaballa-Baal-Posse aus Absurdistan.
Martin Kusej, Intendant des Münchner Residenztheaters (Bayerisches Staatsschauspiel): „Der Suhrkamp-Verlag hat uns auf die sofortige Einstellung weiterer Aufführungen und Zahlung einer Vertragsstrafe verklagt. Jetzt ist es nach sechseinhalbstündiger Verhandlung zu einem Vergleich gekommen: Die Inszenierung in ihrer jetzigen Form kann noch einmal in München und in Berlin gezeigt werden. Man kann uns aber natürlich nicht das Theaterspielen verbieten, sondern nur die Verwendung bestimmter Texte in bestimmten Zusammenhängen. Wir werden daher nach einem kreativen Umgang mit der entstandenen Situation suchen.“
Leander Haußmann, Regisseur: „Ich kann gar nicht sagen, wie ich in diesem Moment meinen Freund Heiner Müller vermisse, dem es völlig Wurscht war, was mit seinen Texten geschieht, Hauptsache nicht das, was im Buch steht, denn da kann man es ja nachlesen. Unter Regisseuren gilt Brecht als der Autor, den zu inszenieren einem Himmelfahrtskommando gleichkommt. Man wird schier erdrückt von so viel Sachkunde, die einhergeht mit Intoleranz und kunstfeindlichem Bürokratismus, grauhaarig und eitel in seiner ewigen, durch nichts hinterfragten, lehrerhaften, bildungsbürgerlichen, silberhaarigen, kordbejackten, nickelbebrillten, dünkelhaften Einfältigkeit, die uns im besten Fall vor die Schranken eines überforderten Richters bringt.“

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An den vier Wänden die Stühle fürs Publikum, und in der Mitte vom Studio „Pavillon“ auf dem Hof des Berliner Ensembles ein bizarres Holzgebirge ‑ wie die aufgetürmten Eisschollen in dem berühmten Friedrich-Gemälde von den geborstenen Träumen. Und aus diesem aufgetürmten, scharfkantigen, geheimnisvoll illuminierten Chaos, das, wir erkennen es sofort, aus lauter Tischen besteht, also aus einem zivilisatorischen Grundelement, das nur gerichtet und geordnet sein will (eine so simple wie total treffliche Idee des großen Bühnenbildners Johannes Schütz), daraus schält sich – qualvolle Geburt – die mythische Figur des Kaspar Hauser, ein Findling, ein Urtyp des von jeglicher Zivilisation unberührten Menschen (Jörg Thieme halbnackt, halb verwahrlost mit Wollpudel gleich einer Krone auf dem gequälten Haupt).
Vor fast einem Halbjahrhundert schrieb Peter Handke sein in 65 Etüden gegliedertes Sprachkunstwerk „Kaspar“; Claus Peymann besorgte die Uraufführung 1968 im Frankfurter Theater am Turm; und für beide, Handke (damals 25) und Peymann (damals 30), begann damit der unaufhaltsame Aufstieg in den Ruhm. Lang ist’s her, und doch hat diese virtuose Sprechpartitur für einen Solisten und fünf so genannte Einsprecher nichts von ihrem Glanz, ihrem Oberflächengefunkel sowie ihrem philosophischen Tiefsinn eingebüßt.
Dabei geht es dem Autor nicht um die historisch verbürgte Geschichte des 1828 in Nürnberg aufgefundenen „Wilden“, der an der Gesellschaft scheitert und schließlich ermordet wird, vielmehr spielt Handke variantenreich durch, wie das geht, prallen Urwüchsigkeit und der Ruf (oder die Sehnsucht) nach Ordnung aufeinander. Die fünf „Einsager“ werfen gleich einem Spielball dem Kaspar die Stichworte, Sprichworte, Sentenzen, die Aufrufe, Zurufe und Befehle zu zum Aufbau von Norm und Ordnung – und Kaspar, am Ende korrekt in Hemd und Anzug, reagiert genervt, aufmüpfig, zuweilen ironisch, schlau, aber auch folgsam. Es geht ums Menschwerden und Menschsein durch Sprache, durch Begrifflichkeit, geht um Sozialisation und Gemeinschaft, ums Lernen und Erziehen, aber auch um Zurichtung, Drill, Manipulation. Am Ende sind alle Tische ordnungs- und normgerecht aufgestellt zu einer riesengroßen rechteckigen Tafel, auf der man tanzen und tollen kann, an der man sitzen, trinken und debattieren, aber auch Gericht halten kann.
Handkes „Kaspar“-Stück gleicht mit seinen „Etüden“ einer Nummernrevue über den selbstbewussten, kritischen oder auch ideologischen Gebrauch von Sprache zum wie auch immer gearteten Denken. „Kaspar“ ist aber auch ein ganz und gar undogmatisches Denkspiel (obgleich 68 entstanden oder gerade deshalb) über das Ambivalente der Zivilisation, ihren Fluch und ihren Segen. Der wunderbare Regisseur Sebastian Sommer (wir denken nur an seine köstliche Brecht-Inszenierung „Hans im Glück“, auch im BE-Pavillon), Sommer inszenierte die delikate Petitesse mit Charme und Eleganz und mit viel Sinn für die Feinheiten der Sprache, für Wortwitz und Pointen, Stimmungs- und Tempowechsel. Geistreiche Unterhaltung.

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