18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

Mutprobe. Die Vereinigte Linke und der 18. März 1990

von Erhard Weinholz

Einige Tage vor der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 erreichte uns im Berliner Büro der Initiative für eine vereinigte Linke (VL) eine Ansichtskarte aus Dresden. Absender war ein vom Kurs seiner neuen Führung enttäuschter Funktionär der vormaligen Blockpartei NDPD. Kommenden Sonntag, so schrieb er uns, würden er und seine ganze Familie VL wählen, eine Bürgerbewegung also, von deren Mitgliedern nicht wenige gegen die in der DDR herrschenden Verhältnisse opponiert hatten. Die Entscheidung des Dresdner Funktionärs war dennoch verständlich: Nachdem auch die PDS sich zu „Deutschland einig Vaterland“ bekannt hatte, war die VL fast die einzige zur Wahl stehende Gruppierung, die für den Fortbestand der DDR focht. Einer DDR natürlich, die sich vom gerade erst gescheiterten Realsozialismus ebenso grundlegend unterscheiden sollte wie vom bürgerlichen Westen. Auch jenseits dieser beiden Modelle („zwischen beiden“ möchte ich nicht sagen) war Platz für mehr als einen Entwurf. Den Mitgliedern der VL schien ein freiheitlicher und demokratischer Sozialismus am ehesten die angestrebte Gleichheit und Selbstbestimmung zu sichern. Diese Werte mussten auch die Eigenart ihrer Organisation bestimmen – das war nicht zuletzt eine der Lehren aus der Geschichte der sozialistischen Bewegung.
Die VL war in dieser Geschichte etwas völlig Neues, man kann sie auch als Gegenentwurf zur Partei neuen Typus verstehen: Kein (pseudo)demokratischer Zentralismus, kein Anspruch auf eine führende Rolle im Sinne der Leninschen Parteitheorie. Stattdessen Basisdemokratie und ein föderaler Aufbau: Nicht die Zentralgremien, sondern die einzelnen Gruppen bildeten den Hauptort der Entscheidung und des Handelns. Zudem war keine verbindliche Ideologie vorgegeben; politische Grundlage waren die in der „Böhlener Plattform“ benannten Ziele. Trotzkisten und Autonome konnten ebenso mitwirken wie den Leninismus ablehnende Marxisten und christliche Sozialisten, und sie taten es auch. Anfangs zumindest. So hatte sich die VL zwar nicht zu der, aber immerhin zu einer vereinigten Linken entwickelt. Eine Hallenser PDSlerin erklärte später, endlich eine Alternative zum für sie unerträglich gewordenen Parteileben der SED gefunden zu haben.
Die VL blieb auch während der Umgestaltung der realsozialistischen Länder in den Jahren 1989/90 die einzige Organisation dieser Art. Weshalb wäre – wie manch anderes in dem Zusammenhang – noch zu ergründen.
Der Weg, den die VL anstrebte, würde jedoch kein leichter sein. „Wenn ich Mut hätte, würde ich VL wählen“, hieß es nicht ohne Grund auf einem der Wahlplakate. Doch schon im Dezember 1989 zeichnete sich ab, dass der breiten Masse solch ein Weg nicht aussichtsreich erscheinen würde. 5 Prozent Stimmanteil hatte unser Wahlkampfleiter dennoch für gut möglich gehalten. Ich hatte auf 2 Prozent gehofft, tatsächlich wurden es 0,18 Prozent: Etwa 20.000 Wähler hatten republikweit für das Bündnis von VL und Nelken – das Aktionsbündnis Vereinigte Linke (AVL) – gestimmt. Die PDS hingegen kam auf 16,40 Prozent. Für einen der 400 Volkskammersitze wären eigentlich 0,25 Prozent nötig gewesen, doch blieb, nachdem alle Ansprüche der über diese Hürde gekommenen Listenverbindungen und Parteien befriedigt worden waren, ein Sitz frei, und der ging an den Spitzenkandidaten des AVL im Wahlkreis Berlin, an Thomas Klein.
Lange Gesichter gab es am Abend des 18. März aber nicht nur bei der Berliner VL, sondern auch in den Büros anderer Bürgerbewegungen im Haus der Demokratie an der Friedrichstraße. Demokratie jetzt! und die Initiative Frieden und Menschenrechte, die zusammen mit dem Neuen Forum als Bündnis 90 angetreten waren, kamen auf 2,91 Prozent der Stimmen, der Unabhängige Frauenverband erreichte im Verein mit der Grünen Partei 1,97 Prozent. Hier setzte sich, so scheint mir, etwas fort, das schon im Herbst zuvor sichtbar geworden war: „Neues Forum zulassen“, las man bei der großen Demonstration vom 4. November mehr als einmal, „Neues Forum an die Regierung“ forderte dagegen meines Wissens niemand. Den meisten schien wohl zu reichen, dass die Bürgerbewegungen am Runden Tisch die Regierung Hans Modrows überwachten. Für fähig, selbst zu regieren, hielt man sie anscheinend weniger. Überhaupt blieb das Alt-Oppositionelle, im Verbund gar mit dem Kirchlichen, Ökologischen und Friedensbewegten, den meisten DDR-Bürgern fremd.
Den neuen Bewegungen fehlte zudem ein politisches Zugpferd; keine ihrer Hauptfiguren hatte das Charisma eines Rudi Dutschke oder wenigstens Gregor Gysi. Den einen großen Revolutionsführer hatte es hierzulande im Übrigen schon 1848 und 1918 nicht gegeben. Ob es am Mangel an geeigneten Persönlichkeiten gelegen hatte oder am kritischen Sinn der revolutionären Massen, denen niemand in der Rolle genügen konnte, sei dahingestellt.
Obendrein hatte die Ende Januar 1990 von der Modrow-Regierung beschlossene Vorverlegung des Wahltermins vom 6. Mai auf den 18. März insbesondere die – noch im Aufbau begriffenen – Bürgerbewegungen vor beträchtliche Probleme gestellt (sie hatten allerdings, mit Ausnahme der VL, diese Verlegung gebilligt). Doch ist fraglich, ob das ausschlaggebend war.
Das Wahlfiasko der VL verlangt nach besonderer Erklärung. Im Unterschied etwa zum Bündnis 90, das mit allen anderen Gruppierungen um Stimmen kämpfte, wetteiferte die VL eigentlich nur mit den Bürgerbewegungen und mehr noch mit der PDS. Ähnlich hat sich im neuen deutschland vom 3./4. November 2014 Thomas Klein geäußert, als er schrieb, dass die VL „nicht imstande war, eine überzeugende Alternative gegenüber den ‚Wendehälsen’ in der SED/PDS und den neuen politischen Vereinigungen zu formulieren“.
Zunächst muss man aber festhalten, dass die VL, wie die anderen kleineren Bürgerbewegungen auch, erhebliche Mühe hatte, im Gründungsgetümmel jener Monate überhaupt wahrgenommen zu werden. In den Medien wurde sie nur selten erwähnt, für einen flächendeckenden Wahlkampf fehlten ihr die Kräfte: Sie bestand in der ersten Hälfte des Jahres 1990, zu ihren besten Zeiten, aus gut 30 Basisgruppen; die Zahl der Aktiven dürfte über 1000 kaum hinausgegangen sein. Doch was hätte so ein Wahlkampf gebracht? Im Bezirk Suhl, wo es überhaupt keine VL-Gruppen gab, kam das AVL auf 0,14 Prozent, in der Hauptstadt Berlin, wo sie einigermaßen präsent war, auch nur auf 0,32 Prozent.
Thomas Kleins oben zitierter Satz nun klingt für mein Empfinden so, als sei die VL damals an eigenem Unvermögen gescheitert. Meines Erachtens gab es aber gar keine Alternative zu den „Wendehälsen“, die breite Kreise hätte überzeugen können. Am 18. März 1990 für das Alternativangebot der VL zu stimmen, für eine sozialistisch revolutionierte DDR also, bedeutete hingegen unter den gegebenen Umständen nur noch, Flagge zu zeigen. Dafür war offensichtlich auch den allermeisten Linken, die gern in der DDR geblieben wären, die Stimme zu schade. Obendrein war mit diesem verlorenen Haufen namens VL doch sowieso kein Staat zu machen. Was sollte man von Leuten halten, die, wie im ND zu lesen war, ihren Gründungskongress verpatzten? Deren Vollversammlungen – bei denen es dann drunter und drüber ging – mit anderthalb Stunden Verspätung anfingen? Da harrte man doch lieber bei der großen Truppe aus. Die Wahlpleite der VL hatte sicherlich auch mit diesem unter anderem bei SED/PDS-Mitgliedern entstandenen Negativ-Bild zu tun, einem Bild, das zum wenigsten die Folge so oder so formulierter Alternativen war.
Die Volkskammerwahl 1990 blieb das einzige Vorhaben der Gesamt-VL. Schon vorher hatte sich gezeigt, dass sie nur in Teilbereichen und an einzelnen Orten würde Einfluss nehmen können. Nun standen neue Verhältnisse ins Haus. Doch was das für unsere Arbeit bedeuten könnte, erörterten wir kaum. Ich weiß noch, wie wir damals in der VL Prenzlauer Berg ratlos herumsaßen: Was machen wir denn nun? Die Gruppe verschwand bald ebenso spurlos wie die meisten anderen. Der DDR-Sprecherrat stellte 1992 oder 1993 die Arbeit ein. Nur einige größere Gruppen arbeiteten bis in die zweite Hälfte der Neunziger weiter, jede auf ihrem Feld und nur lose miteinander verbunden. Auf Unterstützung aus dem Westen konnte die VL nicht hoffen, mit der sozialistischen Linken dort ging es gleichermaßen bergab. Im Oktober 2013 beschloss eine letzte Mitgliederversammlung die Auflösung der Organisation. Vielleicht sind heute auch andere Organisationsformen außerparlamentarischer Arbeit sinnvoller als Vereine mit umfänglichen Satzungen, Sprecherräten, Landes- und Bundesgremien … Auf alle Fälle sind die meisten der vormaligen Mitglieder der VL, die ich kenne, geblieben, was sie schon im Herbst ’89 waren: engagierte Parteilose.

Der Autor war 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Volkskammerabgeordneten Thomas Klein und einer der beiden Mitarbeiter im Arbeitssekretariat des DDR-Sprecherrates der VL.

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