18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Afghanistan nach Karzai

von Thomas Ruttig, Kabul

Ein erstes Zeichen der Veränderung wird gleich nach der Einreise am Terminal des Kabuler Flughafens sichtbar: Das große Karzai-Porträt ist weg, ersetzt durch eines des neuen Präsidenten Muhammad Aschraf Ghani, der Ende September sein Amt antrat. Dafür heißt der ganze Flughafen jetzt nach seinem Vorgänger: Hamed Karzai International Airport. Um den 57-Jährigen ranken sich mittlerweile Gerüchte, er wolle mit unzufriedenen Mudschahedinführern eine Opposition aufbauen. Er tritt als Elder Statesman auf, äußert sich regelmäßig zu politischen Fragen, und Nachbarn berichten, dass er täglich in seinem Palast Hof halte.
Mit dem Ex-Weltbanker Ghani, der als Reformer gilt, verbinden sich viele Hoffnungen, vor allem unter jungen Afghanen: dass endlich die grassierende Korruption beendet wird; dass die unter Karzai belasteten Beziehungen mit den Geldgebern im Westen, vor allem dem Hauptgeber USA, repariert werden; dass die Aussichten auf ein Ende des auch durch die US-geführte internationale Intervention ab 2001 nicht beendeten Krieges sich verbessern und, vor allem, dass er es schafft, das Land aus der akuten Wirtschaftskrise wieder herauszuführen.
Anekdoten, wie der neue Präsident unmittelbar nach seiner Amtseinführung Ende September sofort das Geschehen an sich reißen wollte, waren bald in aller Munde, ob nun wahr oder ausgedacht. Wie Harun-al-Raschid, der legendäre Kalif von Bagdad, habe er im Basar bei den Bäckern überprüft, ob das Fladenbrot auch das richtige Gewicht habe. Er checkte zu nächtlicher Zeit in einem Krankenhaus, ob die Ärzte ihre Bereitschaftsdienste einhielten. Schließlich besuchte er auch das Kabuler Zentralgefängnis in Pul-e Tscharchi, um sich nach den so genannten „schicksalslosen“ Strafgefangenen, zu erkundigen, also jenen, die zum Teil seit Jahren in Haft sitzen, ohne je einem Richter vorgeführt worden zu sein. Ghani setzte der Staatsanwaltschaft eine Frist, in der die Fälle geklärt sein müssen.
Allerdings verlieren seine Wähler inzwischen langsam ihre Geduld, und Ghanis Macher-Ansehen bröckelt schon wieder. Die politische Transition vom korrupten und ineffizienten System Karzai zur neuen, reformorientierten „Regierung der nationalen Einheit“ unter Ghani und seinem Quasi-Ministerpräsidenten Abdullah (dessen Position offiziell CEO heißt) kommt nur im Schneckentempo voran. Über vier Monate nach der Machtübernahme hat Afghanistan immer noch keine vollständige Regierung. Dass die Kabinettsbildung so lange dauert liegt daran, dass dieselben politischen Lager, die sich während der Präsidentschaftskampagne noch heftig bekämpft hatten, nun gefordert waren, sich zusammenzuraufen und die zahlreichen politischen Patronage-Netzwerke und Subfraktionen auf beiden Seiten unter einen Hut zu bringen. Die erwarteten, für ihre Beiträge zum Wahlkampf mit lukrativen Ämtern honoriert zu werden. Allerdings hatte Ghani versprochen, als Zeichen für den Bruch mit dem Karzai-System, dass es nur neue Gesichter im Kabinett geben würde. Bei einer ersten Runde von individuellen Vertrauensabstimmungen im Parlament Ende Januar brachten Ghani und Abdullah nur neun ihrer 19 Minister-Kandidaten durch. Damit bleiben 18 der 27 Ressorts (also zwei Drittel) bis auf weiteres unbesetzt.
Aber das eigentliche Problem Afghanistans ist die akute Wirtschaftskrise. In den letzten Monaten stand Kabul mehrmals am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Nur Ad-hoc-Zuschüsse aus dem Westen – zur Zahlung der Gehälter der 350.000 Soldaten und Polizisten – verhüteten das Schlimmste.
Aber die Krise ist ein strukturelles Problem. Afghanistan gehört mit etwa der Hälfte der Bevölkerung unter Armutsgrenze immer noch zu den am wenigsten entwickelten Ländern. Zudem hat es sich über die letzten 150 Jahre als Rentierstaat entwickelt, getragen von ausländischen Subventionen – zuerst als Pufferstaat zwischen den expandierenden Kolonialreichen Britanniens und Russlands, im Kalten Krieg die erklärte Äquidistanz nutzend, Entwicklungsgelder aus West und Ost einwerbend und nach 2001 und bis heute als Frontstaat im „Krieg gegen den Terror“. Das Land ist weiterhin zu etwa 90 Prozent von externen Geldern abhängig.
Die Wirtschaftspolitik der US-geführten Alliierten und der afghanischen Nach-Taleban-Regierung haben da höchstens an der Oberfläche gekratzt. Mehr noch, Fortschritte lassen sich höchstens nach den quantitativen Wachstumskriterien feststellen. Über die beiden letzten Jahre ist das von der Weltbank als „bemerkenswert“ beschriebene Wachstum der afghanischen Wirtschaft zwischen 2002 und 2012 von durchschnittlich neun Prozent auf 1,5 Prozent gefallen. Zur gleichen Zeit gingen die Eigeneinnahmen des afghanischen Staates sowie die Zuflüsse an externen Mitteln drastisch zurück. Die USA, als größter Geber, reduzierten ihre Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan zwischen 2010 und 2012 von 4,5 auf 1,8 Milliarden Dollar. Das Wirtschaftswachstum war ohnehin künstlich und Ausdruck einer von den milliardenschweren Sicherheits-, Logistik- und Bauaufträgen des nun abziehenden westlichen Militärs gefütterten Blase.
Zudem gab es bei einer Reihe von Gebern ein erhebliches Missverhältnis zwischen den Ausgaben für militärische und für zivile Zwecke. Bei den USA betrugt es zwischen 2001 und 2012 16:1, bei Deutschland offiziell 2,5:1 – nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 2010 lag es jedoch bei 9:1. Selbst die Weltbank verwies darauf, dass „Ausgaben ‚für’ Afghanistan nicht Ausgaben ‚in’ Afghanistan“ sind. Nur 38 Cent jedes Dollars erreichten die lokale Wirtschaft. Der Afghanistan-Krieg hat sich zu einem Paradebeispiel dafür entwickelt, wie zunehmende Militarisierung (und Privatisierung) der „Entwicklungshilfe“ systematisch entwicklungspolitische Prinzipien außer Kraft setzten.
Von der Verfünffachung des Pro-Kopf-Bruttosozialprodukts seit 2001 profitierte nur eine mit der Regierung verbundene Oberschicht, also die Patronage-Netzwerke, die sich im System Karzai einnisteten. Die Normalbevölkerung kämpft mit steigenden Preisen und zunehmender Arbeitslosigkeit. Dass sich der Anteil der Afghanen, die in Armut leben sowie jener, die sich nicht ausreichend ernähren können (ein Drittel; ein weiteres Drittel ist nicht weit davon entfernt), seit mehreren Jahren nicht verändert hat, beweist dass viele Entwicklungsfortschritte durch den Krieg aufgefressen werden.
Die Ghani/Abdullah-Regierung und deren westliche Verbündete wollen diese Krise nun mit einem Austeritätshaushalt bekämpfen – also einem neoliberalen Mittel, das bereits im weitaus wohlhabenderen Südeuropa zu katastrophalen sozialen Folgen geführt hat. Schon berichten afghanische Medien, dass mehrere Ministerien aus Geldmangel wichtige Infrastrukturprojekte auf Eis legen mussten. Indirekte Gehaltskürzungen für Staatsbedienstete werden diskutiert. Unter diesen Bedingungen sind auch die Beschäftigungschancen der demnächst über 100.000 Hochschulabsolventen pro Jahr, die mangels einer entwickelten Privatwirtschaft vor allem in Regierungsbehörden drängen, düster. Das könnte den politischen Rückhalt der Regierung gerade unter jenen untergraben, auf deren Unterstützung sie am meisten angewiesen ist. Und dies alles in einer Situation, in der die Taleban-Bewegung ihre militärischen Aktivitäten noch einmal verstärkt hat. Sie rückte näher an Distrikt- und sogar Provinzhauptstädte wie den früheren Bundeswehrstandort Kunduz heran und operiert wieder in größeren Verbänden. Einziger offizieller Gradmesser dafür, wenn auch indirekt, sind die laut UN im zweiten Halbjahr 2014 wieder gestiegenen Zahlen für zivile Kriegsopfer sowie die stark wachsenden Verluste der afghanischen Sicherheitskräfte.