17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Das Leben der Vögel

von Frank Ufen

Schleiereulen verfügen über ein derart empfindliches Gehör, dass sie sogar in stockdunkler Nacht auf Mäusejagd gehen können. Merkwürdigerweise hält nichts sie davon ab, ausgerechnet in Kirchtürmen zu nisten und sich dort dem dröhnenden Lärm der Glocken auszusetzen. Anscheinend wird dadurch das Eulengehör nicht im Geringsten geschädigt. Warum das so ist, ist nach wie vor nicht geklärt.
Der Wanderfalke gilt als der schnellste Vogel der Welt. Nach neuesten Messungen erreicht er im Sturzflug eine Höchstgeschwindigkeit von 350 Kilometer pro Stunde. Dass er dabei sein Ziel mit größter Präzision ansteuern und Kollisionen mit gefährlichen Hindernissen verhindern kann, ist ein weiteres verblüffendes Phänomen.
Das Nest, das die südafrikanische Kap-Beutelmeise baut, gilt als das technisch anspruchsvollste und raffinierteste überhaupt. Das beutelförmige Gebilde ist mit einer gut getarnten verschließbaren Einschlupfröhre versehen, unter der sich ein Scheineingang befindet. Dieser blinde Eingang dient dazu, Baumschlangen in die Irre zu führen. Nicht wenige Vogelarten begnügen sich allerdings damit, ihre Nester direkt am Boden zu errichten. Warum sie das tun, ist ziemlich rätselhaft. Josef Reichholf vermutet, dass Bodennester zwar den Nachteil haben, dem einen oder anderen Raubtier zum Opfer zu fallen. Doch dafür könnten diese Raubtiere noch gefährlichere Nestfeinde vertreiben.
Nach Auffassung des Zoologen und Evolutionsbiologen Josef Reichholf sind die Vögel die größten Überlebenskünstler der gesamten Tierwelt. Nicht nur hätten sie es geschafft, sich aus eigener Kraft und ohne technische Hilfsmittel über alle Kontinente zu verbreiten und sowohl mit äußerst hohen und niedrigen Temperaturen als auch mit extremen Temperaturunterschieden zurechtzukommen. Sie hätten sich außerdem in einem solchen Maße von den Zwängen ihrer Umweltverhältnisse befreien können, dass offenbar werde, wie fragwürdig Begriffe wie „ökologisches Gleichgewicht“, „ökologische Nische“ oder „invasive Art“ seien.
In Reichholfs Augen ist es in erster Linie ein Umstand, der die Vögel zu ihren virtuosen Anpassungsleistungen befähigt: Sie sind mit einer einzigartigen „Herz-Lungen-Luftsack-Maschine“ ausgerüstet, die einen extrem hohen Energieumsatz, eine extrem hohe Herzschlagrate und eine Körpertemperatur ermöglicht, die die der Säugetiere erheblich übersteigt. Allein deswegen, erklärt Reichholf, könnten Vögel fliegen oder außergewöhnlich schnell oder ausdauernd laufen oder äußerst tief tauchen. Und vielleicht auch nur deswegen, vermutet Reichholf, würde ihr Gehirn dermaßen schnell arbeiten und würde es bei ihren halsbrecherischen Flugmanövern dermaßen selten zu Unfällen kommen.
Dass Krähen, Raben und Papageien regelrechte Geistesakrobaten sind, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Reichholf hebt jedoch hervor, dass sämtliche Nesthocker ziemlich intelligent und lernbegierig seien Und die intelligentesten Nesthocker seien eindeutig die Singvögel, die sich allerdings auch deswegen überall hätten durchsetzen können, weil die Evolution sie mit erheblich verbesserten Beinen und Füßen ausgestattet habe.
Die Feder gehört zweifellos zu den bedeutendsten evolutionären Errungenschaften überhaupt. Doch wie sind die Vögel zu ihrem Gefieder gekommen? Reichholf vermutet, dass Federn ursprünglich einzig und allein dazu dienten, dort überschüssige Eiweißstoffe mitsamt ihren schwefelhaltigen Bestandteilen sowie giftige Farbstoffe unterzubringen. Reichholf nimmt des Weiteren an, dass bei jeder Vogelart der Stoffwechsel der Männchen dem der Weibchen im Wesentlichen entspreche. Das bedeutet, dass exakt die gleiche Menge an Ressourcen und Energie, die ein Weibchen in die Erzeugung der Eier, in das Bebrüten des Geleges und in die Versorgung der Jungen investiert, von dem dazugehörigen Männchen für die Bildung eines Prachtgefieders oder für Balzrituale oder Gesänge verwendet werden müsse.
Reichholf beschäftigt sich darüber hinaus mit dem Brutparasitismus des Kuckucks; er erläutert, warum Vögel überhaupt Eier legen und sich nicht davon abbringen lassen; er zeigt, warum für Vögel Großstädte von Tag zu Tag attraktiver werden – und er erklärt, warum gegenwärtig jede zehnte Vogelart vom Aussterben bedroht ist.
Josef Reichholf räumt der Analyse der Anatomie, des Stoffwechsels und des Energiehaushalts der Vögel viel Platz ein. Auf der Grundlage dieser Untersuchungsergebnisse versucht er dann, für eine ganze Reihe von Phänomenen schlüssige Erklärungen zu finden. Was dabei herausgekommen ist, ist immer wieder erstaunlich. Dabei wird auch deutlich, warum die größte Gefahr für die Vögel mittlerweile von der hochindustrialisierten Landwirtschaft und dem Tun und Treiben der Jäger ausgeht. Eines der aufschlussreichsten und originellsten Bücher über die Vögel und ihre Interaktionen mit ihrer Umwelt überhaupt. Das Buch hat noch dazu den Vorzug, ohne jeden Fachjargon auszukommen.

Josef H. Reichholf: Ornis. Das Leben der Vögel, C. H. Beck, München 2014, 272 Seiten, 19,95 Euro.