17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

Bischofferode war überall

von Erik Baron

In seiner Erzählung „Die hellen Haufen“ fiktionalisiert Volker Braun den Hungerstreik der Bischofferöder Kalikumpel von 1992 zu einem die Massen mitreißenden Aufstand. Doch diesen Aufstand hat es in der Realität nicht gegeben, wenngleich es die hungerstreikenden Kumpel damals in die Schlagzeilen der Medien geschafft haben. Der Hungermarsch auf Berlin endete in der Beliebigkeit hauptstädtischer Demonstrations-Kultur. Man hatte diesen Marsch beiläufig registriert und ließ ihn ins Leere laufen. Die Grube wurde geschlossen, der Widerstand aufgesogen und Bischofferode dem Vergessen preisgegeben. So funktioniert Geschichte – wenn sie nicht aufgeschrieben wird. Während Braun also ein eher „fiktiver“ Chronist ist, spürt Katrin Rohnstock, deren Berliner Unternehmen auf das Schreiben von Memoiren spezialisiert ist, in ihrer jetzt erschienen Anthologie „Mein letzter Arbeitstag“ reale ostdeutsche Lebensläufe auf. Hier ist notiert, was keineswegs in jenen medialen Freudentaumel über 25 Jahre DDR-Grenzöffnung passt, der aktuell aufgezogen wird. Auch im Rohnstock-Band tauchen wieder jene Kumpel aus Bischofferode auf, denen Volker Braun ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Hier heißen sie Bernd und Gerhard Schmelzer und bekommen mit ihrer Geschichte ein individuelles Gesicht.
Neben ihnen melden sich in dem Band insgesamt dreißig Ostdeutsche zu Wort, die jene Jahre nicht unbedingt als Erfolgsgeschichte erlebt haben, sondern vor allem als Einschnitt in ihre Biographie, als abgewickeltes Arbeitsleben. Denn Leben in der DDR wurde vor allem über die Arbeit definiert. Das sei, wie Katrin Rohnstock in ihrem Vorwort formuliert, vielleicht „der größte Luxus: die Sicherheit, eine Arbeit zu haben, von der man leben kann. Sicherheit als Signum von Freiheit“. Fällt diese Arbeit ohne eigenes Verschulden plötzlich weg, ist es eine besonders schmerzliche Erfahrung: Arbeitslosigkeit als Inbegriff des „Ausgeschlossenseins“ und „sozialer Deklassierung“ (so der Soziologe Wolfgang Engler im Nachwort). Der Schmerz darüber findet sich in jeder der Erzählungen wieder. So fanden fast alle arbeitenden Mitglieder der Familie Schmelzer aus Bischofferode ausgerechnet am 24. Dezember 1992 ihre Kündigung im Briefkasten. An diesem Heiligabend, so Bernd Schmelzer rückblickend, lernten sie, wie Kapitalismus funktionierte.
Es ist diese persönliche Sicht auf gesellschaftliche Umbrüche, die die Anthologie zu einem wahren Geschichtsbuch werden lässt. Denn Geschichte nährt sich aus Geschichten. Und die haben die Ostdeutschen mit ihren wechselvollen Lebensläufen zuhauf zu erzählen. So bitter die Einschläge in das Leben der Betroffenen auch gewesen waren, die in dem Band zusammengestellten Geschichten sind keineswegs moralinsaure Ostalgie-Berichte, sondern gebündelte Lebenserfahrung, für die Nachwelt festgehalten. Denn die wird es einmal schwer haben sich vorzustellen, wie Arbeitsleben in der DDR funktionierte. Der Reichtum ostdeutscher Biographien besteht ja gerade darin, mit dem doppelten Blick gesegnet zu sein, zwei Kulturen erlebt zu haben. Und diesen Reichtum gilt es festzuhalten, weil daraus für die Gegenwart und die Zukunft gelernt werden kann. Genau darin besteht der Wert dieser locker geschriebenen und gut lesbaren Anthologie – man lese nur einmal die Geschichte von Rainer Schramm, Vorsitzender der BGL im VEB Elektrokohle Lichtenberg, wie er Harry Tisch, den obersten Gewerkschafter der DDR, in aller Öffentlichkeit zum Rücktritt aufgefordert hat! Oder den bitteren Rückblick von Bernd Havenstein, der als alleinerziehender Vater mit einer grotesken Abfindung von 800 DM abgespeist wurde: „Es war wie auf einer schiefen Ebene, alles kam ins Rutschen. Es gab keine Konstanten, keine Haltepunkte. Sprichwörtlich wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.“ Wenige Seiten später liest man, dass der der Sequester des Außenhandelsbetriebes Industrieanlagen-Import ein Honorar von 92 Millionen DM für die erfolgreiche Abwicklung erhalten hat.
„Mein letzter Arbeitstag“ ist auch eine Fortsetzung des ebenfalls von Rohnstock-Biographien 2013 herausgegebenen Bandes „Jetzt reden wir“, in dem frühere DDR-Generaldirektoren darüber nachdenken, was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist.
„Diese Erfahrung müssen sie machen“, gab Volker Braun den „Vier Werkzeugmachern“ aus der gleichnamigen Erzählung mit auf den Weg, als sie erst nach dem Verlust ihrer Arbeit deren Wert erkannt haben. Diese gewaltsame Erfahrung haben sie nun gemacht. Katrin Rohnstock hat sie in ihrer Anthologie aufschreiben lassen. Nunmehr kommt es darauf an, Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Braun bringt sich am Ende seiner Erzählung „Die hellen Haufen“, nach der Niederschlagung des fiktiven Aufstandes, in aller Konsequenz selbst mit ins Spiel: „Einer aus dem Vogtland, Braun, rief im Jähzorn GEWALT, GEWALT, und es war nicht klar, wollte er sie konstatieren oder ausrufen.“

Katrin Rohnstock (Herausgeberin): Mein letzter Arbeitstag: Abgewickelt nach 89/90. Ostdeutsche Lebensläufe, Edition Berolina, Berlin 2014, 336 Seiten, 14,99 Euro.