17. Jahrgang | Nummer 9 | 28. April 2014

Jetzt reden sie

von Heerke Hummel

„… na endlich“, möchte man hinzufügen, „nach einem Vierteljahrhundert!“ Sie, das sind Generaldirektoren von Industriekombinaten und andere hochrangige Wirtschaftsfunktionäre der DDR. Auf einer Tagung mit dem Titel „Krise und Utopie. Was heute aus der DDR-Planwirtschaft gelernt werden kann“ referierten sie im September 2012 (und in späteren Veranstaltungen) über ihre Arbeits- und Lebenserfahrungen. Ihrer historischen Bedeutung wegen – denn es geht darum, sowohl feindselige als auch ostalgische Bilder von der Wirtschaft des ostdeutschen Staates zu korrigieren – wurden die Beiträge, Informationen aus erster Hand, in einem Buch zusammengestellt.
Im „Anhang“ kommt die Kulturwissenschaftlerin Isolde Dietrich auf die Frage „Woher rührt das Schweigen der ostdeutschen Industriekader?“ zu sprechen. Nach Erwägung einer Vielzahl möglicher Antworten sowie Betrachtung zahlreicher Schicksale ist sie zu dem Schluss gekommen, „dass die industrielle Elite der DDR – anders als die politische und militärische – vielfach wirklich keine Zeit hatte, sich ans Aufschreiben des eigenen Lebens zu setzen.“ Denn die allermeisten Industriekader haben, der Autorin zufolge, erfolgreiche Nachwende-Karrieren gestartet. Über die Hälfte von ihnen, ist zu erfahren, hatte zehn Jahre nach der Wende immer noch oder wieder eine Führungsposition mit hoher Verantwortung inne, „wo hohe Professionalität und Pragmatismus, oft auch ihr spezielles Sozialkapital gefragt waren.“
Harry Nick, ehemals Professor für Politische Ökonomie am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, hält dem häufig zu hörenden Klischee, die Leiter volkseigener Betriebe seien keine Unternehmer, sondern „von der SED dirigierte Parteisoldaten, Ausführende einer für Planwirtschaften verbindlichen zentralistischen Wirtschaftssteuerung von oben nach unten“ gewesen, entgegen: „Die fortschreitende Entfremdung zwischen dem Produkt und den Produzenten, Eigentümern und Managern gehört zur Geschichte des Kapitalismus.“ Zu den wichtigsten Eigenschaften und Fähigkeiten der Generaldirektoren und Leiter großer volkseigener Betriebe gehörte – ganz im Sinne des wohl bedeutendsten deutschen Unternehmenstheoretikers J. A. Schumpeter – nach seinen, H. Nicks, Erfahrungen eine starke Produktverbundenheit. Sie resultierte aus Berufsinteresse und ihrer Ausbildung und habe sie zu profunden Kennern ihrer Erzeugnisse und Herstellungsverfahren gemacht.
Die Generaldirektoren selbst belegen dies mit ihren Beiträgen eindrucksvoll. Vehement widersprechen sie der Behauptung, die DDR-Wirtschaft sei ein großer Schrotthaufen gewesen. Dabei verschließen sie durchaus nicht die Augen vor den zahlreichen Schwierigkeiten sowie Schwächen des „Realsozialismus“ ostdeutscher Prägung. Doch sie haben eben gleichzeitig auch die dafür verantwortlichen Ursachen mit im Blick, die nicht immer in der DDR und deren Kunst zu wirtschaften lagen. Vornehmlich gehörte dazu die Spaltung Deutschlands, in deren Folge die DDR so gut wie keine Schwerindustrie besaß, aber von der entsprechenden Basis im Westen abgeschnitten war. Ferner konnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg beim ökonomischen Wiederaufbau nicht wie die Bundesrepublik auf umfangreiche Mittel aus dem Marshallplan der USA zurückgreifen, sondern musste umgekehrt lange Jahre allein die deutschen Kriegsreparationen für die Sowjetunion aufbringen. Ihr stand nicht der Weltmarkt für Technologieimporte offen, denn sie war Opfer des Kalten Krieges zwischen den Supermächten und eines unerbittlichen Wirtschaftskrieges, auch seitens der BRD, der zum Ziel hatte, den ökonomischen Aufschwung der DDR mit allen Mitteln zu behindern. Das wahre deutsche Wirtschaftswunder, schreibt Peter Grabley, seinerzeit Staatssekretär und Stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, ereignete sich in der DDR. Mit dieser Ansicht steht er durchaus nicht allein. In den 1960er und 70er Jahren war sie unter „aufgeklärten“, weniger feindselig gesinnten Bundesbürgern durchaus nicht selten anzutreffen; auch wenn man das heute kaum noch glauben mag.
Dennoch: Ist es nicht zu hoch gestochen, und wird das Buch seinem Untertitel gerecht „Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist“? Die Generaldirektoren selbst geben darauf keine direkte Antwort. Aber in ihren Ausführungen finden wir durchaus bestätigt, worauf Harry Nick als etwas dem heutigen Kapitaleigner Verlorengegangenes hinweist: Die auf das sachliche Produkt gerichtete Denkweise. „Für die Wirtschaftsleiter in der DDR“, schreibt er, „war die Fokussierung auf die technische Entwicklung […] die verlässlichste Orientierung für die interne Leitung und Planung der betrieblichen Entwicklung“. Und bei Heiner Rubarth, zuletzt Generaldirektor des VEB Kombinat Elektromaschinenbau in Dresden, lesen wir dazu ergänzend: „Für die meisten Wirtschaftsfunktionäre in der DDR galt der Leitspruch: ‚Wir arbeiten zum Wohle der Menschen!‘ Und das hatten wir wirklich verinnerlicht.“ Was den Menschen in der DDR geboten werden konnte, seien zwei wesentliche Dinge gewesen: eine vernünftige Lebensaufgabe und ein sicheres sowie auskömmliches Leben.
Dieses im Vergleich mit dem Westen Deutschlands gegensätzliche Denken bewirkte auch eine andere Arbeitsweise der Generaldirektoren im Osten, wo „ein Kombinat nie nur ein wirtschaftliches Unternehmen darstellte, sondern […] immer auch eine soziale Einheit bildete.“ Zu erkennen ist das bei den meisten Autoren. Herbert Richter belegt das am Beispiel „seines“ Betriebes, des Gaskombinats Schwarze Pumpe. „Während das Kombinat in der DDR aus sich heraus dafür sorgte, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten zu gestalten“, schreibt er, „sparen sich die Betriebe heute die Ausgaben für diese Bereiche. Zumeist werden Kultur und Soziales ohnehin durch Steuergelder finanziert oder über freie Trägerschaften und auf Privatinitiative hin realisiert.“ Die Betriebe, meint er, vergäben sich damit die Chance, ihre Belegschaft durch konkrete eigene Maßnahmen zusammenzuschweißen und an die Firma zu binden.
Kann das aber in der heutigen Welt mit ihrer außerordentlichen Dynamik über Ländergrenzen hinweg überhaupt noch ein wesentliches Ziel sein? Und ganz allgemein ist zu fragen: Was können diese Erfahrungen, diese Lehren aus der DDR-Wirtschaft heute tatsächlich noch bewirken? Die DDR war nicht der Nabel der Welt. Geht es, was die Zukunft betrifft, heute nicht um etwas viel Allgemeineres – die Wiedererlangung des Primats der Politik über die Wirtschaft? Darum, dem ökonomisch Notwendigen mit Hilfe der Politik optimale Bedingungen der Durchsetzung zu schaffen? In dieser Hinsicht könnte vielleicht von China gelernt werden, das sich bereits Ende der 1970er Jahre bei Beibehaltung einer starken politischen Zentralmacht zu reformieren begann; wenn denn der dortige Weg sich als dauerhaft stabil und erfolgreich erwiese.
Neues Denken, in den 1980er Jahren auch in der Sowjetunion gefordert und praktiziert, war nicht nur eine innenpolitische Losung. Diese Aufforderung zielte auf ganzheitliches Denken ab: Die Welt als Ganzes betrachten und die Interessen aller im Auge haben!
Absicht der damals angestrebten Dezentralisierung ökonomischer Macht- und Entscheidungsstrukturen war nicht eine Rolle rückwärts in die Verhältnisse des illusionären Finanzkapitalismus. Im Gegenteil: Der Westen ist ebenso vor die Aufgabe gestellt, sich weiter zu reformieren. Der Staat muss als Interessenvertreter der ganzen Gesellschaft das Finanzsystem so gestalten, dass mit seiner Hilfe ein ökonomisch und ökologisch stabiler Reproduktionsprozess der Weltgesellschaft angesteuert wird.
Das vorliegende Buch dürfte zum Nachdenken und zur weiterführenden Diskussion anregen und besonders für all jene von Bedeutung sein, die die DDR nie selbst erlebten. Auf jeden Fall kann es einen Beitrag dazu leisten, dass der Nachwelt ein halbwegs realistisches Bild von der Ökonomik des ostdeutschen Teilstaates der Nachkriegsgeschichte vermittelt wird.

Die Kombinatsdirektoren. Jetzt reden wir! Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist, herausgegeben von Rohnstock Biografien, edition berolina, Berlin 2014, 221 Seiten, 9,99 Euro.