17. Jahrgang | Nummer 7 | 31. März 2014

Wolfgang Harichs Abrechnung mit dem Vulgärmarxismus

von Andreas Heyer

Für einfache Schematisierungen hatte die DDR ein Faible. Der vermeintlich größte Philosoph der Weltgeschichte, Stalin, stand dabei bis 1953 helfend zur Seite. Während des Zweiten Weltkriegs kam ihm die Idee, dass die klassische deutsche Philosophie des Idealismus ihre Tücken haben müsse. Wohin man blicke, nur Reaktionäre: Hegel, Schelling, Jacobi. Kant und Fichte wurden dann in diesem Atemzug gleich miterledigt. Und so entstand die Formel, dass die Philosophie Hegels „die aristokratische Reaktion auf den französischen Materialismus und die französische Revolution“ sei.
Die Liste der Namen derer, die sich in den ersten Jahren der DDR diesem Diktum mehr oder weniger lautstark widersetzten, liest sich wie ein „Who’s who“ der marxistischen Philosophiegeschichte: Georg Lukács, Ernst Bloch, Fritz Behrens, Auguste Cornu, Jürgen Kuczynski und viele andere. Wolfgang Harich, der zu Beginn der 50er Jahre seine an Lukács geschulten Argumente in Vorlesungen den Studenten zu Gehör brachte, wurde zügig mit einem Parteiverfahren bedacht. Die Hegel-Bücher von Lukács und Bloch mussten so manche ideologische Hürde umschiffen, bis sie in der DDR erscheinen konnten.
Gleichwohl aber lassen sich durchaus gewisse Nuancen der Bewertung der idealistischen Philosophie durch die SED feststellen. Während um Hegel eine eigene Debatte geführt wurde, konnte man beispielsweise zu Kant etwas freier und unbefangener forschen. Natürlich waren zahlreiche ideologische Fallstricke zu umgehen, bestimmte Fragen gar nicht erst zu stellen. Aber innerhalb dieses Bezugssystems war freies Denken möglich. Georg Klaus edierte 1954 Kants „Allgemeine Naturgeschichte“ im Aufbau-Verlag, zudem erschienen verschiedene Aufsätze und Monographien. An anderen Stellen blieb die Partei allerdings ängstlich. Bloch wollte am 21. und 22. Mai 1954 eine große Konferenz über Kant durchführen, die Planungen waren weit fortgeschritten. Doch das Staatssekretariat für Hochschulwesen verbot die Tagung am 10. Mai. Die Verbindung von Bloch und Kant war der SED offensichtlich zu riskant.
Wolfgang Harich hat diese Ereignisse an vorderster Front miterlebt. Er machte sich in den ersten Jahren der DDR um Blochs und Lukács’ Werke in der DDR als Lektor im Aufbau-Verlag verdient, kämpfte unter andrem auch für den Druck der Hegel-Bücher beider Philosophen. Im Rahmen seiner Vorlesungstätigkeit an der Berliner Humboldt-Universität äußerte er sich mehrfach zur idealistischen Philosophie in einer Weise, die ihm sogar eine „schwere Rüge“ der Partei einbrachte. Vor allem aber bemühte er sich um ein vernünftiges Bild von Hegel und Kant. Die Konsequenzen waren ihm dabei klar: Er musste sich gegen Stalin positionieren. Als einziger Intellektueller der DDR schwänzte er dann auch konsequenterweise die offizielle Trauerfeier zum Tod Stalins in Berlin.
Auf der heute noch geheimnisumwitterten Konferenz zum Thema „Das Problem der Freiheit im Licht des wissenschaftlichen Sozialismus“ konnte Harich 1956 nachholen, was Bloch versagt geblieben war: Er referierte über Kant. Und er nutzte seine Ausführungen um die DDR zu kritisieren. Womit gesagt ist, dass die Angst der SED vor Hegel und Kant nicht völlig unberechtigt war.
Als Harich im November desselben Jahres wegen der Bildung einer angeblich „konterrevolutionären Gruppe“ verhaftet und anschließend zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt wurde, war für die SED klar, dass sein Name aus der Philosophiegeschichte der DDR eliminiert werden müsse. Mit unglaublicher Akribie zog die Stasi den gedruckten Protokollband der Freiheits-Konferenz aus dem Verkehr und vernichtete ihn fast vollständig. Auch das von Harich geplante 5. Heft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie des Jahres 1956 wurde konfisziert, die Aufsätze Harichs und Blochs zu Hegel wurden durch Reden von Walter Ulbricht und Kurt Hager ersetzt.
Im Dezember 1964 entließ Ulbricht nach über acht Jahren Harich aus der Haft. Und dieser setzte sich ohne zu zögern sofort wieder an seine alten philosophischen Arbeiten. Ab circa 1966 arbeitete er für einige Jahre an dem umfangreichen Manuskript „Widerspruch und Widerstreit“. Zwei Dinge wollte er grundsätzlich klären und damit den Marxismus als Philosophie weiterentwickeln:
1. Das Verhältnis von Logik und Dialektik gehörte zu den zentralen Streitfragen der frühen DDR-Philosophie. In verschiedenen Zeitschriften wurde intensiv darüber diskutiert, ob beide einander konträr gegenüberstehen oder sich gegenseitig ergänzen würden. Gemeinsam mit Georg Klaus und Paul F. Linke führte Harich die moderne Logik-Fraktion an und vertrat die These der prinzipiellen Einheit von formaler Logik und Dialektik. In „Widerspruch und Widerstreit“ hat er diese Überlegungen dann umfassend abgeleitet und begründet.
2. Natürlich musste dabei erneut die Stellung gerade von Kant und Hegel innerhalb der Philosophiegeschichte diskutiert werden. Harich ging diese Herausforderung auf der Basis einer tiefgreifenden Analyse der drei Kritiken Kants an. Zudem zeigte er erneut, dass der Idealismus zu den Quellen des Marxismus gehöre und auch die Französische Reaktion produktiv verarbeitet habe.
Dabei wendete er sich nun nicht mehr gegen Stalin. Das tiefgreifende Versagen des Marxismus, sich philosophischen Fragen unvoreingenommen zu stellen, sah er durch die Systeme zweier anderer marxistischer „Klassiker“ bedingt: Friedrich Engels und Lenin hätten mit ihren Ausführungen das richtige Verständnis der Themenkomplexe Logik, Dialektik, idealistische Philosophie aus Unkenntnis der Quellen verstellt. Das eigentliche Problem sei aber, dass deren Äußerungen schematisch, linkssektiererisch zitiert und dogmatisiert würden. Der Vulgärmarxismus trage die Hauptschuld am mangelnden philosophischen Tiefgang des Marxismus. Es sei gar kein Problem, so Harichs Credo, dass Engels und Lenin sich geirrt hätten. Das könne jedem passieren. Dadurch aber seien sie im philosophischen Disput nur Diskussionspartner, keine Autoritäten.
Harich stellte das Manuskript nicht fertig. Andere Aufgaben reizten ihn mehr. Es entstanden seine Bücher zu Jean Paul, ebenso die Abrechnung mit dem Neoanarchismus. Kurze Zeit später wendete er sich dann der Ökologieproblematik zu. Dennoch versuchte er, den Druck des Werkes zu ermöglichen. Aber der Akademie-Verlag lehnte ab, und die SED war nach wie vor auf der Hut. Und so verschwand der Text, der in verschiedenen, teilweise völlig voneinander abweichenden Versionen vorliegt, in der Schublade.
Der Autor dieses Artikels konnte ihn jetzt – gemeinsam mit anderen Texten und Vorlesungen Harichs, die meisten bisher unbekannt und unveröffentlicht – im Rahmen der Herausgabe der „Nachgelassenen Schriften“ Wolfgang Harichs erstmals zugänglich machen.

Wolfgang Harich: Widerspruch und Widerstreit. Studien zu Kant, Marburg, 2014, 572 Seiten, 39,95 Euro.

Andreas Heyer ist Politikwissenschaftler und lebt in Braunschweig.