von Wolfgang Klein
Sehr zu Recht hat Wolfgang Brauer im letzten Blättchen („Hermann Sinsheimer – eine Wiederentdeckung“) anhand der endlich vollständig veröffentlichten Erinnerungen von Hermann Sinsheimer auf den Glanz des liberalen deutschen Bildungsbürgertums hingewiesen. Schaut man genauer auf ein Detail, das er angesprochen hat, wird allerdings auch einiges vom Elend dieses Bürgertums deutlich. Heinrich Mann, war zu lesen, habe 1933 Sinsheimers Ruf zerstört, als er ihn in seinem Buch „Der Haß“ mit Goebbels in Verbindung brachte. Schuld daran sei die Eifersucht seiner damaligen Freundin und späteren Frau Nelly gewesen. Das fasst präzis zusammen, was Sinsheimer – langjähriger Freund und erster Biograph Heinrich Manns – in seinen Erinnerungen darüber mitgeteilt hat, unter welchen Umständen es zum lebenslangen Bruch zwischen beiden kam. Nelly habe bei einer polizeilichen Vernehmung seine Frau und ihn denunziert, weil sie sich selbst denunziert fühlte; er habe sich daraufhin geweigert, einer telefonischen Bitte Heinrich Manns nachzukommen, ein Bankguthaben für ihn abzuheben und einige Nachrichten an Nelly zu übermitteln. Und dann habe dieser ihn einige Monate später „als Gast des Goebbels und in Unterhaltung mit ihm“ so dargestellt, dass nur von „bitterem Verrat“, „bodenloser Fälschung der Tatsachen“ und „Hysterie“ gesprochen werden könne: „Was versagt hat, war sein Herz.“ Tatsächlich findet sich unter den „Szenen aus dem Nazileben“, die Heinrich Mann an das Ende seiner Abrechnung mit den neuen Machthabern in dem auf Französisch geschriebenen und im Herbst 1933 auch auf Deutsch erschienenen Buch „Der Haß“ stellte, eine Szene, in der mehrere – in einer späteren Terminologie – Wendehälse, darunter Sinsheimer, Goebbels in der übelsten Weise umschwänzeln. Geschrieben wurde das allerdings nicht einfach, weil Heinrich Mann Einflüsterungen von Nelly gefolgt wäre (die im Juni 1933 aus Deutschland zu ihm nach Nizza fliehen konnte und deren Persönlichkeit und Schicksal im übrigen erst in den letzten Jahren einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren ist) – er hatte auch einen Artikel von Sinsheimer im Berliner Tageblatt lesen können. Darin hatte dieser – gut zwei Monate nach dem Reichstagsbrand und dem Beginn des offenen Terrors – über einen Vortrag des frisch ernannten Propagandaministers Goebbels zum Platz des Films im faschistischen Deutschland unter anderem geschrieben: „Ein so offenes und leidenschaftliches Bekenntnis zum Wesen und zum Wert der Filmkunst hat man in Deutschland aus dem Munde eines führenden Regierungsmitgliedes bisher leider nie gehört.“ In dem Bild „von der wünschenswerten Entwicklung des deutschen Filmes“ stehen „wir […] nicht weitab von ihm“. Am Schluss war zu lesen: „Nun aber sollen sich die Büros und Ateliers der Filmbranche ein Konzept der Rede des Ministers besorgen, es an die Wand schlagen und danach leben und arbeiten. Wieder einmal ist der Filmkunst ein Weg gezeigt.“ Auch über diesen Artikel berichtet Sinsheimer in seinen Erinnerungen – zehn Seiten vor den Ausführungen über Heinrich Manns Angriff. Er sei von mehreren Seiten gedrängt worden, zu der Veranstaltung zu gehen, und habe dann „einen total unpolitischen und ungehässigen Vortrag über Filmkunst“ gehört, gegen den sich, „von der Person des Vortragenden abgesehen, nichts einwenden“ ließ; „man musste, wollte man kein Fälscher werden, hoch bewerten und anerkennen“. Dies nur habe er getan. „Das Echo aus der Emigration ließ nicht lange auf sich warten; ich wurde als Verräter und Überläufer gebrandmarkt.“ Von Heinrich Manns Darstellung ist an dieser Stelle keine Rede. Nur allgemeint heißt es: Der „Versuch im Pfadfindertum“ – denn „noch schien Deutschland nicht verloren“ – sei von „der Emigration“ (das ist eigentlich der Begriff für jene, die freiwillig in ein anderes Land ziehen) verkannt worden. Elend sind solche Erinnerungen. Geschrieben wurden sie, als Sinsheimer schon seit Jahren selbst ins Exil gezwungen war und von Terror, Krieg und Vernichtung wusste, die seit 1933 vom Deutschen Reich über die Deutschen, Europa und die Welt gebracht worden waren. In privaten Kategorien von Herz und Kränkung schrieb er über Erfahrungen, deren politische Prägung er – Aufrichtigkeit ist ihm sicher zuzugestehen – nicht einmal im Nachhinein zu begreifen vermochte. Dass die Person Goebbels in einem Herrschaftssystem stand, das zum Zivilisationsbruch führte, und dass er dessen Methoden (darunter den Einsatz des Films) und dessen Gefahren nicht erkannt hatte, konnte er nicht einmal sagen, als die Katastrophe eingetreten war. Haltungen wie diese gehörten dazu, um das Nazi-Regime möglich zu machen. Sinsheimer war, dagegen verwahrte er sich mit Recht, kein Überläufer, schon gar kein Begeisterter, und gehörte nicht einmal zu jenen konservativen Eliten aus Wirtschaft, Militär und Politik, die in einer Herrschaft der NSDAP das beste Mittel sahen, in der Krise von Wirtschaft und Politik ihre Macht neu zu stabilisieren. Er suchte schlicht das, „was einst war und von uns vertreten wurde, festzuhalten“. Schöne Vorstellungen von einer liberalen Demokratie – ohne einen Blick dafür, wie deren verkündete Werte von den Realitäten der Machtausübung in Deutschland schon lange (auch schon in der Weimarer Republik) untergraben worden waren und dass jeder Verzicht auf Widerstand zur Festigung des neuen Regimes beitrug. Dabei hätte Sinsheimer – zum Beispiel – in einem „Dringenden Appell“, den auch sein Freund Heinrich Mann im Juni 1932 unterzeichnet hatte, lesen können: „Die Vernichtung aller persönlichen und politischen Freiheit in Deutschland steht unmittelbar bevor, wenn es nicht in letzter Minute gelingt, unbeschadet von Prinzipiengegensätzen alle Kräfte zusammenzufassen, die in der Ablehnung des Faschismus einig sind.“ Das Feuilleton des Berliner Tageblattes hatte diesen Text allerdings nicht gebracht. Als Heinrich Mann sich im Exil bemühte, durch einen von ihm geleiteten Ausschuss eine deutsche Volksfront zusammenzubringen, scheiterte er an den Methoden, mit denen die kommunistischen Funktionäre ihre Vorherrschaft durchzusetzen versuchten, und an der Weigerung des sozialdemokratischen Parteivorstandes, mit der Kommunistischen Partei zusammenzuarbeiten. Eine politische Organisation des liberalen Bürgertums, die beidem hätte entgegenwirken können, fehlte allerdings gleich ganz. Bis heute wird Sinsheimers langjähriger Freund – der Deutschland schon vor dem Reichstagsbrand verlassen und die Ehre hatte, unter den ersten sieben Deutschen zu sein, deren Ausbürgerung Beamte des Auswärtigen Amtes (nicht Funktionäre von NSDAP oder Gestapo) im Sommer 1933 vorschlugen – als jemand bezeichnet, der träumerischen Wesens war, und als realpolitischer Versager abgeschrieben. „Wohlmeinenden Idealismus, der nicht immer mit Klarheit einhergeht“, bescheinigte ihm die Pariser Zeitung Le Monde schon, als er starb. Von einer ernsten Selbstkritik jenes Bürgertums, das wie Sinsheimer Hitler „nicht ernst genug genommen“ hat (wie er locker schreibt), hört man weniger. Was es nicht erkannte, wird praktischerweise „Hitlerdeutschland“ (Betonung vorne) und „nationalsozialistisch“ (Betonung hinten) genannt.
Der Autor ist Romanist an der Universität Osnabrück. Er ist Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Essays und Publizistik Heinrich Manns.
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