17. Jahrgang | Nummer 6 | 17. März 2014

Die polnische Sicht auf die Ukraine

von Holger Politt, Warschau

Nichts rechtfertige Putins Kurs der Einverleibung von Gebieten der Ukraine. So das einhellige Stimmungsbild in Polens Öffentlichkeit. Dementsprechend machte Polens führende Tageszeitung Gazeta Wyborcza am 7. März 2014 mit diesem Titel auf: „Anschluss der Krim“, das Wort Anschluss dabei natürlich deutsch geschrieben. Selbst wenn alles abgelehnt und verurteilt werde, was in Kiew zum Sturz von Viktor Janukowitsch geführt habe, sei für Moskau keine Handhabe gegeben, Teile des Nachbarlandes herauszubrechen. Alle Argumente, die Putin seit der Besetzung der Krim vorbringe, um gegenüber der internationalen Öffentlichkeit das Gesicht zu wahren, seien vorgeschoben, fadenscheinig. Geteilt ist die Meinung allerdings bei der Frage, ob Putins Schachzug gegen die territoriale Integrität der Ukraine nun eher Ausdruck besonderer Stärke oder auf der Hand liegender Schwäche sei. Insofern spielen historische Vergleiche keine vordergründige Rolle, auch wenn Adam Michnik, um kräftig zuzuspitzen, sie gerne bemüht. Viel wichtiger ist tatsächlich die aktuelle Analyse. Anders als in Deutschland steht die Ukraine in Polen in der Wahrnehmung nicht im Schatten des größeren Russlands – die Ukraine ist sogar der wichtigere Bezugspunkt.
Kurz nach dem russisch-georgischen Waffengang im Sommer 2008, der mit einer Niederlage Georgiens und der vollständigen Abtrennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland endete, initiierte Polen mit wirksamer Unterstützung Schwedens das EU-Programm der „Östlichen Partnerschaft“, mit dem ehemaligen Sowjetrepubliken eine Annäherung an die EU-Strukturen ermöglicht werden soll, ohne dass zugleich von einer Beitrittsperspektive die Rede ist. Gewünschte Adressaten waren Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldowa, die Belarus und vor allem die Ukraine. Als Antwort hob Moskau eine „Euroasiatische Union“ aus der Taufe, die im Kern aus Russland, Kasachstan, der Belarus und der Ukraine bestehen soll. In vereinfachter Nachahmung der EU wird auf die schnelle Schaffung eines gemeinsamen Markts, auf freien Kapital- und freien Personenverkehr gezielt. An weitergehende politische Gewaltenteilung und gegenseitige Aufgabe von Souveränitätsrechten wird weniger gedacht. Russland lockt vor allem mit wirtschaftlichen Angeboten und nachweisbarer Stärke. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat das Niveau Polens, das Land, auf das in der Ukraine zuerst geschaut wird, wenn man sich an der EU zu messen versucht. Die 22.000 Dollar sind der dreifache Wert, der in der Ukraine derzeit erreicht wird. Zu Beginn der 1990er Jahre hatten alle drei Länder das gleiche Niveau.
Zu einer offenen Zuspitzung kam es im November 2013, als Janukowitsch durch Moskau vor die Wahl gestellt wurde: hü oder hott. Er gab dem EU-Programm einen Korb, unterzeichnete das vorbereitete Assoziierungsabkommen nicht. Die daraufhin in Kiew ausbrechende Protestwelle führte nach blutiger Zuspitzung zu seinem Sturz, den Moskau als einen von langer Hand vorbereiteten Putsch mit Unterstützung von NATO und EU ausgibt. In seiner berühmt gewordenen Pressekonferenz nach der in Gang gesetzten militärischen Besetzung der Krim verstieg sich Putin am 4. März 2014 zu der Behauptung, die Putschisten seien in Polen und Litauen ausgebildet worden.
Tatsache ist, dass wohl in keinem anderen EU-Land dem Geschehen auf dem Kiewer Maidan von Anfang an so viel Sympathie entgegengebracht wurde wie in Polen. Dementsprechend hatten es kritische Stimmen, die den Blick etwa auf die äußerst heterogene Zusammensetzung der Protestierenden oder die komplizierte Gesamtsituation der Ukraine richteten, schwerer, Gehör zu finden. Mitunter wurde an die Adresse der Regierung auch die Frage gerichtet, ob das Programm der „Östlichen Partnerschaft“ nicht gescheitert sei. Ende Januar 2014 beschwor Donald Tusk in einem Fernsehinterview, dass seine Regierung sich für eine EU-Beitrittsperspektive der Ukraine einsetzen werde. Dass dabei bereits der eher enge Rahmen des Programms der „Östlichen Partnerschaft“ überschritten wurde, spielte angesichts des Geschehens in Kiew keine Rolle mehr. Im Vordergrund stand die Überzeugung, das Vorbild der Entwicklung Polens mit Hilfe der EU-Strukturen könne auch von der Ukraine wiederholt werden. Daraus aber die Miturheberschaft für einen Putsch in Kiew zu münzen, um den Vorwand für das Eingreifen auf der Krim zu stützen, fällt auf den Urheber zurück, verrät die Absicht, gegebenenfalls die Teilung der Ukraine billigend in Kauf zu nehmen.
Denn ganz gleich, welche Perspektive die Ukraine nun zwischen Europäischer Union und Moskaus euroasiatischem Plan wählen wird, den obersten Wert für Polens Politik hat die territoriale Integrität der Ukraine. Anders als in Deutschland wird diese Frage auch viel weniger „aufgerechnet“ mit wirtschaftlichen Interessen – kein Politiker würde es wagen, die Krim als einen aus Sicht übergeordneter Interessen zweitrangigen Happen zu behandeln, der dem Wolf ruhig überlassen werden solle, um dessen Hunger zu stillen. Ein kritisch-besorgter Seitenblick fällt noch immer auf die Ostseepipeline, dem janusköpfigen Rückgrat für Deutschlands Energiewende. In diesem Zusammenhang fiel sogar das Wort vom Glück, als ein zwischen Russland und Deutschland gelegenes Land in der entstandenen schwierigen Situation fest zur Europäischen Union zu gehören. Ein anderes Gleichnis macht indes Adam Michnik auf: Die Welt brauche Russland, aber Russland brauche nicht Putin.