16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Querbeet (XXXIV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Kalaschnikow-Pädagogik, ein altes Hauptstadttheater mit neuem Migrationshintergrund, himmlischer Klingklang und Theobald Tigers Blick auf Christkindleins Flug.

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Die 10 B ist der blanke Horror. Voll assig. Voll von solchen, die man in Vorzeiten korrekter Pädagogik Mehrfach-Sitzenbleiber nannte. Die 10 B ist das Grauen einer Goethe-Gesamtschule irgendwo, und der Film „Fack ju Göhte“ illustriert das. Zeigt, was unsere gebeutelte Lehrerschaft üblicherweise öffentlich nicht zu beschreiben wagt, was aber in gewissen mutigen Büchern nachzulesen ist, die wiederum heftig beschimpft werden von Bildungsfunktionären und anderen Wirklichkeitsverweigerern mit der rosaroten Brille.
Was nun diesen Film so besonders, so hinreißend aufklärerisch macht, ist nicht allein die knallige Illustration, sondern der virtuos ins Groteske geschubste Schulalltag. Ist der scharfe, trotz allem humor- und liebevolle Blick auf unsere halbwüchsigen Wüstlinge, die sich da in ihrem Unverstandensein, ihrer Verzweiflung, aber auch in ihrem Hass, ihrer Gleichgültigkeit, Boshaftigkeit und Aggressivität eingemauert haben und aus dieser vermeintlich uneinnehmbar festen Burg auf ihre Mitmenschen (vor allem: Lehrer) eindreschen mit unbegrenzt sadistischer Phantasie.
Doch da kommt Zeki Müller zwischen, so ein junger, toller, kraftstrotzender Kerl (mit Knastvergangenheit, was keiner weiß). Per Zufall gerät er als ungelernter Aushilfslehrer in die Chaos-Anstalt namens „Goethe“ und bringt schließlich die 10 B sogar mit Knarre auf Vordermann (das martialische Ding schießt Farbmasse). Zeki setzt auf jene Brutalo-Methoden, die unsere schlimmen Kids selbst hingebungsvoll praktizieren untereinander und gegenüber aller Welt. Mit klassischer Schulpädagogik hat das nichts zu tun, ist aber zielführend. Müssen nun etwa die Lehrer-Studienpläne umgeschrieben werden?
Selbstredend ist dieser extrem erfolgreiche Film von Bora Dagtekin auch ein grandioser Schauspielerfilm, sei es durch die sagenhaft pragmatische Rektorin Katja Riemann („Wer will heut‘ schon Lehrer werden?“) oder die verstiegen-idealistische, hyperkorrekte Referendarin Karoline Herfurth, die in der 10 B immer bloß zum Opfer her- und hingerichtet wird, oder den Star der Komödie Elyas M’Barek als durchtriebener Tor und Außenseiter, der mit pädagogisch offiziell wertlosen Mitteln sowie viel Herz und Chuzpe die 10 B erlöst von ihrem Elend – und die ganze Schule dazu. Er rettet das System, indem er es erst mal in die Luft jagt – hoch komisch, sehr zum Nachdenken.

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Erstmals übernimmt eine Intendantin mit Migrationshintergrund ein wichtiges deutsches Staatstheater. Shermin Langhoff; sie kam mit neun Jahren aus der Türkei nach Berlin und heiratete ein in die legendäre deutsche Theaterfamilie der Langhoffs ein (ihr Schwiegervater sowie dessen Vater waren einst Intendanten des Berliner Deutschen Theaters). Zusammen mit dem ideenreichen Bühnenpraktiker Jens Hillje, einstmals Thomas Ostermeiers Adlatus an der Berliner Schaubühne, annonciert sie ein wie es heißt „postmigrantisches“ Programm, das – neben den ewig allgemeinmenschlichen Dingen – sonderlich die Tatsache umspielt, dass Germanien längst ein Land ist mit vielen kulturellen Identitäten. Und so wucherten im ganzen Land die Erwartungen ins Riesige, wie das wohl wird mit dem neuen Gorki.
Zunächst einmal wurde das Ensemble ausgetauscht mit jungen, überwiegend in Deutschland aufgewachsenen und an hiesigen Schauspielschulen ausgebildeten Talenten, die ihre familiären Wurzeln im Ausland haben. Außerdem: Das kostbar klassizistische, traditionsreiche Haus in der Mitte Berlins vis a vis der Staatsoper strahlt jetzt besonders festlich. Und im Foyer laden rote Plüschsofas zum Verweilen; keine alternativen Holzhocker oder Teppiche; es gibt englische Übertitel und der Laden brummt an der Kasse.
Den künstlerisch programmatischen Anfang machte Anton Tschechow mit seinem Zeitenwende-Stück „Kirschgarten“. Doch die ersten Sätze sind nicht vom großen Russen, sondern von Immanuel Kant: Seine berühmten Worte über das, was Aufklärung sei. Sehr berührend. Sehr einfühlsam; wie überhaupt die ganze Inszenierung von Hausregisseur Nurkan Erpulat auf ganz eigene, zuweilen aber auch angestrengt aufklärerische Art einfühlsam ist gegenüber dem in Scharen herbei geeilten neuen Publikum mit Migrationshintergrund wie auch dem angestammt berlinischen. Gern dreht die Regie lustvoll auf mit Allotria, Tanz, Musik. Dann wieder kommen leise Töne und immer wieder ein vielsagend langes Schweigen. Abschiedswehmut und Neuanfangskrach stürzen wie auch bei Tschechow in eins. Das freilich wird überwuchert von einem Übermaß an plakativ gut Gemeintem – historische, soziologische, philosophische oder direkt ins lokal Gegenwärtige zielende Querverweise. Trotzdem: Eine lebenspralle, überhaupt nicht schwarz, sondern bunt gerahmte Komödie. Ein bisschen ungewöhnlich, befremdlich, aber grundsympathisch, dieser etwas andere Tschechow.
Zum Finale des opulenten Openings: Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“, eine Übermalung von Tschechows Lebenslüge- und Stillstandskomödie „Drei Schwestern“, 1987 von Thomas Langhoff am Gorki DDR-erstaufgeführt. Braun lieferte eine präzise DDR-Standortbestimmung zwischen sozialistischer Utopie und Wirklichkeit. Ein Satz wie „Die Revolution kann nicht als Diktatur zum Ziel kommen“ hätte jeden Bürgerrechtler sofort in den Knast gebracht. Von der Gorki-Bühne geschleudert, schlug das einst ein wie eine Bombe. Da brannte die Luft!
Ein Vierteljahrhundert später wird das Theater der Väter, das etwas sagen will, von den Söhnen (von Lukas Langhoff und seinem Dramaturgen Holger Kula) zum totalen Gesülze reduziert. Grundunsympathisch! Eitel Lukas fällt weder zu Tschechow noch zu Braun etwas ein. Dafür lassen ein paar schräge Typen unentwegt allgegenwärtigen Frust ab, blödeln und lachen sich halbtot dabei. So geht der Übergang des Politischen ins Banale. Da brennt keine Luft mehr. — Ist Theater, derart platt gemacht, womöglich doch ein weiter greifendes Symptom?

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 Augenschmaus und Seelenbalsam für Alt und Jung und überhaupt jeden, der einen Sinn hat fürs Märchenhafte, Zauberische, Verspielte und Verträumte – das ist “Momix Botanica”, die Show des weltberühmten amerikanischen Choreographen Moses Pendleton, der mit seiner Modern-Dance-Company „Momix“ jetzt erstmals durch Deutschland tourt.
Was im zeitgenössischen Tanz gern verkopft und steril daherkommt, ist hier, raffiniert gestützt durch High-Tech-Video, allgemein verständlich die reine Sinnenfreude und geradezu magische Poesie. Pendleton kreiert zum Soundtrack-Mix aus Vogelgezwitscher, Naturgetöse, Softrock und Barockmusik mit viel Witz und Sinn für seltsam Komisches ein Breitwandpanorama von überraschend fantasievoll ins Surreale greifenden Bewegungsbildern aus Flora und Fauna. Pflanzen, Tiere, Fabelwesen, Menschen finden zueinander, lassen und verwandeln sich – als Traum, Spiel, Scherz. Sehr zum Staunen.

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Weihnachtskonzert auf der Kommode neben dem Schreibtisch mit einem Traditionsorchester: Die Sächsische-Erzgebirgische Privatkappelle „Kühne & Wendt“ (seit 1915) in ganz großer Besetzung, die himmlisch hölzernen Heerscharen in bester Verfassung. Dabei haben die ältesten als Engel verkleideten Instrumentalisten knapp 90 Dienstjahre auf dem Buckel mit den grünen Flügeln dran; ein jeder mit korrekt elf weißen Punkten dekoriert. – „Jauchzet frohlocket…!“

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In der Nummer 52 der „Schaubühne“ vom 25. Dezember vor einhundert Jahren erschien das Gedicht „Großstadt-Weihnachten“ von Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger: „…So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden / in dieser Residenz Christkindleins Flug? / Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden… / Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.” – Kurz vor Heiligabend wurde in Babylon die Tempelanlage Etemenanki wiederentdeckt, der „Turmbau zu Babel“. Und Malewitsch malte in Moskau das „Schwarze Quadrat“. ‑ Natürlich geschah noch viel mehr damals im Dezember sowie in den elf Monaten zuvor. Florian Illies hat es recherchiert und in lauter kleine feine Feuilletons gegossen, die er in seinem 300-Seiten Buch „1913“ versammelt (S. Fischer Verlag). Man kann getrost auch 2014 darin schmökern. Prosit Neujahr!