16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Emil Noldes Leben

von Wolfgang Brauer

Ich mag seine Bilder sehr. Auf den Ölgemälden feiern die Farben wahre Orgien strahlender Leuchtkraft, zugleich ist es eine sehr reduzierte, nicht ausufernde Malerei. Die Aquarelle sind zauberhaft über alle Schaffensjahre hinweg, die Druckgrafik atemberaubend. Seine autobiographischen – sprachlich so spröd wie die Holzschnitte im Druckbild – Schriften las ich als junger Mensch mit Genuss. Sie zeugten vom Ringen eines Künstlers um seinen ureigensten Ausdruck und um Akzeptanz in einer so gar nicht unbedingt kunstfreundlichen Welt. Mir erschien es logisch, dass dieser Künstler einer der von den Nazis am heftigsten verfolgte Maler war. Ich spreche von Emil Nolde. Erst allmählich wurde mir klar, dass auch ich einer systematischen Stilisierung der eigenen Biographie durch den Künstler selbst und deren bewusster Verfälschung durch die Verwalter des Nachlasses aufgesessen war.
„Wir jungen Künstler malten unsere starken Bilder“, sagt er in seiner Schrift „Jahre der Kämpfe“ (1934). Das klang überzeugend und ließ vergessen, dass Nolde im Jahre 1910 – über diese Zeit berichtet er in der Autobiographie – bereits 43 Jahre alt war. Allerdings war er einige Zeit Mitglied der „Brücke“ gewesen, jener neben dem „Blauen Reiter“ wohl wichtigsten Maler-Gemeinschaft der Expressionisten. Das war aber 1906/1907 und die anderen „Brücke“-Künstler gehörten mit Ausnahme Otto Muellers einer jüngeren Generation als Nolde an. Dennoch gerieten alle zusammen in eben jenem Jahre 1910 in einen Konflikt, der nur vordergründig ein ästhetischer war und Langzeitwirkungen zeigen sollte, die die damaligen Protagonisten nicht ahnen konnten: Der Streit um die Ausrichtung der Berliner Secession. Die Jury der Jahressschau wies 27 Arbeiten zumeist expressionistischer Künstler ab. „Durch diese rücksichtslose Zurückweisung aller Bilder der aufblühenden Jugend und besonders der eigenen war ich zur Gegenwehr gereizt“, erklärt Emil Nolde über 20 Jahre später.
Wie das ablief mit der Gegenwehr, beschreibt Kirsten Jüngling ausführlich in ihrer Biographie „Emil Nolde. Die Farben sind meine Noten“, die jetzt bei Propyläen erschien. Nolde beschimpfte Max Liebermanns Bilder, der war Präsident der Secession, als „schwach und kitschig“, der wiederum droht mit Rücktritt, „wenn det Bild ausjestellt wird“. Liebermann meinte Noldes „Pfingsten“ (heute in der Berliner Nationalgalerie). Das Ganze endete mit einem endgültigen Bruch – und es steckte mehr dahinter als der Glaubenskrieg zwischen älter gewordenen Impressionisten und den jüngeren Expressionisten. Leute wie Nolde attackierten die „französische Anschauung“ – Kirsten Jüngling beschreibt den Pariser Aufenthalt Emil Noldes 1899 als einziges Desaster. Das hatte sich in dem übersensiblen Künstler offenbar tief eingebrannt. In der Ablehnung „französischer Anschauung“ sprach Nolde dieselbe Sprache wie der ehemalige Worpsweder Carl Vinnen („Ein Protest deutscher Künstler“, 1911), der allerdings auch die Expressionisten als dekadent und minderwertig verdammte und damit kunstpolitisch stringenter „argumentierte“ als der seine Malerei als „zutiefst deutsch“ empfindende Nolde.
Emil Noldes Krieg gegen die „Alten“ hatte allerdings eine Komponente, die ihn politisch blind machte. In seinem Bericht über den Secessions-Streit steht ein rätselhafter Satz: „Das nächste war, daß ich als wütiger Antisemit verschrien wurde, das ich nie gewesen bin.“ Die Belege fehlen. Kirsten Jüngling fügt ihrer Biographie einen Anhang bei mit dem spröden Titel „Zur Editionsgeschichte von Noldes autobiographischen Schriften“. In diesem weist sie darauf hin, dass in „Jahre der Kämpfe“ seitens der herausgebenden Nolde Stiftung Seebüll Passagen wie die folgende gestrichen wurden: „Die Juden haben als Leistung die Bibel und das Christentum. Durch ihre unglückselige Einsiedelung in den Wohnstätten der arischen Völker und ihre starke Teilnahme in deren eigensten Machtbefugnissen und Kulturen ist ein beiderseitig unerträglicher Zustand entstanden.“ Das ist kein einzeln stehender „Ausrutscher“. Der Mann war Antisemit. Kirsten Jüngling zitiert einen Brief des langjährigen Essener Folkwang-Direktors Ernst Gosebruch, der das bestätigt, und Nolde zieht diese Karte auch bei seinen Auseinandersetzungen mit faschistischen Größen der Kreise um Alfred Rosenberg und Adolf Ziegler, die ihm 1937/1938 heftigst zusetzen sollten. Zieglers Ausfälle über die „Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtkönnens und der Entartung“ waren nicht zuletzt gegen Emil Noldes Kunst gerichtet.
Jüngling hat für die Streichungen in den Nolde-Schriften in den fünfziger und sechziger Jahren eine Erklärung: „Es ging darum, Emil Nolde als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung darzustellen. Man vertraute seiner Überzeugungskraft als Maler offensichtlich nicht. Man, das war die Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, die gleich nach dessen Tod alles daransetzte, die Deutungshoheit über Nolde zu erlangen.“ Opfer war Nolde, wenn man nicht nur seine Vertreibungsgeschichte aus den Weihetempeln der deutschen Kunst betrachtet, aber mitnichten. Die Autorin zitiert aus einem Brief Emil Noldes an den Freund Hans Fehr vom 10. November 1933: „Der Führer ist groß u. edel in seinen Bestrebungen u. ein genialer Tatenmensch.“. Nolde war Gast des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, auf der Gedenkfeier der „Blutzeugen der Bewegung“ in München. Er darf Adolf Hitler live erleben, die Tischnachbarn des Malers sind Ernst Röhm und Franz Ritter von Epp, NSDAP-Reichsstatthalter von Bayern bis 1945.
Dass der geniale Tatenmensch mit dafür sorgte, dass von 600 gezeigten Werken der am 11. Juli 1937 eröffneten Gruselschau „Entartete Kunst“ 48 Arbeiten aus Noldes Hand waren, hält dieser für einen Irrtum. „Denn das, was er von der neuen Partei weiß, passt gut zu dem, was er seit vielen Jahren vertritt“ – so erklärt Jüngling den wahrscheinlich schon 1933, spätestens 1934 erfolgten NSDAP-Eintritt des Künstlers. Ein „Märzgefallener“, wie die Nazis die aus Karrieregründen zu ihnen im Frühjahr 1933 überlaufen Wollenden verspotteten, war Nolde nicht. Er war, das ist für den Freund der Kunst dieses Malers bitter, ein Gesinnungs-Nazi. Nichtsdestotrotz haben diese nach den erhalten gebliebenen amtlichen Unterlagen 1.052 seiner Werke als „Verfallskunst“ beschlagnahmt. Wie gesagt, Nolde hält das alles für einen Irrtum. Er geht soweit, bei Reichsminister Bernhard Rust die Rückgabe seiner beschlagnahmten Werke zu fordern.
Es schmerzt, das Buhlen des Künstlers um die Gunst der Nazi-Führung nachvollziehen zu müssen – und Kirsten Jüngling beschreibt das alles noch mit großer Zurückhaltung. Aber sie stößt eine Tür auf und lässt zumindest einen Spalt des grellen Tageslichtes nazideutscher Wirklichkeit auf einen bislang nur in mehr oder weniger geschönten Darstellungen erschließbaren Lebenslauf scheinen: Spätestens seit Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“ (1968) – die Romanfigur des Malers Ludwig Nansen wird gern mit Emil Nolde, der eigentlich Emil Hansen hieß, gleichgesetzt – hält sich in der Literatur hartnäckig die Legende der wegen eines verhängten Berufsverbotes „Ungemalten Bilder“. Kirsten Jüngling sieht das sachlicher:  „Ungemalt, weil große Formate nicht möglich, Papier und Farben rationiert sind: Kriegswirtschaft.“ So lakonisch können Autorinnen Legenden zertrümmern – wenn sie den Mut zu einem vorurteilsfreiem Blick haben.
Kirsten Jüngling hatte diesen Blick. Ihre Biographie ist ein lohnenswertes Buch. Ich wünsche mir, sie bleibt am Thema dran. Sicher bin ich mir allerdings, dass das Wissen um das wirkliche Leben und Denken dieses nordfriesischen Farbenzauberers einer respektvollen Bewunderung seiner Kunst keinen Abbruch tun wird. Gerade aus so irritierenden Lebensläufen wie dem Emil Noldes lässt sich mehr über dieses verdammte deutsche Jahrhundert erfahren als aus vielen dickleibigen Wälzern der verbeamteten Geschichtswissenschaft. Seiner Kunst kann das Zerreißen gleisnerischer Interpretations-Vorgaben nur zugutekommen.

Kirsten Jüngling: Emil Nolde. Die Farben sind meine Noten, Propyläen, Berlin 2013, 352 Seiten, 22,99 Euro.