16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Merkel im Zenit? – Geschichten aus der Merkelei (III)

von Erhard Crome

Journalisten schreiben oft schneller, als sie denken. Deshalb lautet ja auch ein alter Satz aus der Welt der Printmedien: Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Gilt das auch für Bücher? In diesem Jahr 2013 sind etliche Bücher über Angela Merkel erschienen, manche zu dem offensichtlichen Zweck, sie möglichst zu demontieren, ihr ihre ostdeutsche Herkunft oder die „Sozialdemokratisierung“ der Christdemokratie vorzuwerfen. Andere zu dem ausdrücklichen Behufe, das „Phänomen“ Merkel zu enthüllen oder einfach ihre Politik zu erklären.
In diese Reihe stellt sich auch das Buch von Stefan Kornelius. Er ist Angela Merkel 1989 in „Ostberlin“ zum ersten Mal begegnet. Als Ressortleiter Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung begleitet er heute die Kanzlerin auf Auslandsreisen und hat offenbar Zugang zu verschiedenen ihrer engeren Berater. Die erzählen ihm Leuschen und Riemels, aus denen er sich dann diese und jene Information herausholt. So ist auf quasi US-amerikanische Weise ein Buch entstanden, das auf Insider-Eindrücken und -Mitteilungen beruht, deren Quellen aber nicht offengelegt werden. So erfährt der Leser manches über Angela Merkel, das er vielleicht vorher nicht wusste.
Gleichwohl hat das Buch einen grundsätzlichen konzeptionellen Mangel. Kornelius erklärt Merkel psychologistisch: Das ostdeutsche Pfarrhaus, das tatsächliche oder erzählte Spannungsfeld der jungen Merkel zum Staat DDR, in dem sie allerdings ein hochqualifiziertes Studium absolvieren und dann in aller Ruhe wissenschaftlich arbeiten konnte. Erklärt wird ihr politischer Aufbruch in der DDR von 1989, ihr Weg unter Kohl, bis sie in der Kohl-gemachten Krise der CDU die Christdemokratie wieder konsolidierte und schließlich zurück an die Regierung führte. Es wird immer wieder versucht, ihre politischen Entscheidungen aus ihrer mentalen Disposition heraus zu erklären. Interessen kommen da nicht vor. Insofern führt der Untertitel des Buches: „Die Kanzlerin und ihre Welt“ in gewissem Sinne in die Irre, weil damit auch Deutschland als Macht sowie im Machtkonstrukt Europäische Union und im Verhältnis zu anderen Mächten – gesondert behandelt werden die USA, Russland und China sowie Israel – verschwindet. Da agiert die Kanzlerin scheinbar als Person, nicht als die Repräsentantin der Macht dieses Staates. Bei den Debatten um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die mit Blick auf das Hundertjährige 2014 gerade anzuschwellen beginnen, ist völlig klar, dass bei der Analyse der gemachten Politik die „Reichsleitung“ als Terminus ernst zu nehmen ist. Nun ist aber wahrscheinlich Merkel als Regierungschefin stärker, als es Theobald von Bethmann Hollweg je war, denn der hatte noch einen halbautoritär regierenden Kaiser über sich und eine Militärführung neben sich, vom Reichstag ganz zu schweigen, während die Bundeskanzlerin, gestützt auf eine sichere Parlamentsmehrheit, in einer konstitutionell starken Position agieren kann. Ein Terminus „Bundesleitung“ wäre gewiss irreführend, aber eine Analyse der Macht Deutschlands in der Welt von heute sollte mehr sein, als nur der Versuch, die Entscheidungen der Regierungschefin aus der Prägung im Pfarrhaus erklären zu wollen.
Kornelius eröffnet sein Buch mit dem Satz: „Im achten Jahr der Kanzlerschaft erreichte Angela Merkel den Höhepunkt ihrer Macht.“ Auf diesen Anfangssatz bezieht sich mein Zitat oben von der Zeitung von gestern. Ich weiß nicht, ob der Autor diesen Satz angesichts des tatsächlich erreichten Wahlergebnisses der Union auch heute noch so schreiben würde. Es sei denn, der Höhepunkt dauert jetzt vier Jahre, und danach folgen dann Jahre des Niedergangs. Im Schlusskapitel heißt es, „mit dem ersten Tag nach der Wiederwahl wäre die Kanzlerin auch mit dem Wissen belastet, dass ihre Zeit nun ausläuft“. Hier könnte man die Psychologisierung zurückgeben und sagen, als gelernte Christenmenschin weiß sie ohnehin, dass ein Jegliches seine Zeit hat. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie nicht bereits für die Wiederwahl 2017 arbeitet. Dann ist sie 63 Jahre alt, zum Regieren noch lange nicht zu alt.
Die Beobachtungen, die Stefan Kornelius zur Außenpolitik zusammengestellt hat, sind bei der Untersuchung der derzeitig gemachten deutschen Außenpolitik hilfreich. Merkel benutzt an drei Punkten den Terminus: „Staatsräson“: in Bezug auf das Verhältnis zu Israel (da wird das immer wieder gern zitiert), das Verhältnis zu den USA und in Bezug auf die Europäische Union. Im Verhältnis zu Israel hat sie das nicht gehindert, auf kritische Distanz zu Ministerpräsident Netanjahu zu gehen und insbesondere die ausufernde Siedlungspolitik Israels zu kritisieren, die einen tatsächlichen Friedensprozess immer mehr unmöglich macht. Was die USA anbetrifft, so merkt Kornelius an, dass Merkel lieber von „Freundschaft“ denn von „Dankbarkeit“ redet. Hier sieht er einen Unterschied zu Kohl, was jedoch eher ein Unterschied zu der ganzen politischen Klasse Westdeutschlands ist, die mit dem Dank an die USA für die Befreiung 1945 und die Unterstützung im Kalten Krieg erzogen und sozialisiert wurde. Merkel wuchs mit dem „Dank an die Sowjetsoldaten“ auf, den sie sicherlich nicht wörtlich genommen hatte, sie aber immerhin eifrig russisch lernen und als Regierungschefin 2010 der Einladung nach Moskau zur Siegesparade Folge leisten ließ.
Gegenüber den USA redet sie also lieber von Freundschaft. Das „bedeutet Gleichberechtigung, Begegnung auf Augenhöhe“ und zugleich: „Wir haben Interessen, wir haben Werte“. Insofern heißt Augenhöhe, auch gegenüber den USA deutsche Interessen wahrzunehmen. Das schließt Kritik an der „Herrschaftsdiplomatie“ der USA ein. Dies offenbar ein Wort, das Merkel intern benutzt, um das Machtgebaren der USA in der internationalen Politik zu kritisieren. In dieses Bild passt denn auch die aktuelle Aussage der Kanzlerin zum Abhören ihres Handys: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht! Wir brauchen Vertrauen unter Verbündeten und Partnern. Solches Vertrauen muss wieder hergestellt werden.“ Das meint: die US-Regierung muss jetzt in Sachen Vertrauensbildung liefern. Sie besteht auf der Augenhöhe und sieht deutsche Interessen durch die USA verletzt. Wahrscheinlich wird die Merkel-Ära als jene Phase in die Geschichte der deutschen Außenpolitik eingehen, in der sich Deutschland nach Maßgabe seiner Möglichkeiten von der Vormundschaft der USA emanzipiert hat. Zugleich merkt Kornelius an: Merkel „denkt in den Kategorien von Stärke und Überlegenheit, und sie wünscht sich lieber ein starkes Amerika als ein übermächtiges China“. Das wäre dann das, was auch unter der Überschrift „Werte“ in der Außenpolitik verhandelt wird.
Das längste Kapitel des Buches befasst sich mit der EU- und Euro-Krise. Es ist überschrieben mit: „Die große Krise“ und trägt den Untertitel: „Angela Merkels Schlacht um Europa“. Auch hier wird wieder so getan, als ginge es lediglich um persönliche Politik, nicht die Macht Deutschlands. Wichtig sind vor allem folgende Punkte: Es war die deutsche Politik, die absichtsvoll in die Konstruktion der „Rettungsschirme“ der EU den Internationalen Währungsfonds (IWF) hineinbrachte, um sicherzustellen, dass die Kreditbedingungen nicht durch Mehrheiten in den EU-Gremien verändert werden können. Und es war ebenfalls das deutsche Agieren, das einer weiteren Vergemeinschaftung der Politik in der EU den Weg verlegt und die Krisenbewältigung nicht im Rahmen der geltenden EU-Verträge, sondern durch eine neue Konstruktion zwischenstaatlicher Verträge durchgesetzt hat.
Bei diesen Entscheidungen spielte am Ende aber doch die gelernte Wissenschaftlerin eine Rolle. En passant hatte sie gesagt, 55 Jahre Römische Verträge sind ein Wimpernschlag in der Geschichte, und die Maya seien schließlich auch untergegangen: „Es gibt keinen Rechtsanspruch auf führende Kulturmacht“, das müsse man sich erarbeiten. Und Kornelius meint, auch die ostdeutsche Erfahrung habe ihren Blick auf die Krise beeinflusst: „Sie hatte den Zusammenbruch eines Systems erlebt und wollte Europa diese Erfahrung ersparen“. Niemand sollte ihr vorwerfen können, „dass sie aktiv mitgewirkt habe am Untergang eines Kontinents“. Die Frage aber, ob die deutsche Politik gerade das herbeiführt, was sie den Worten nach verhindern soll, hat Kornelius weder gestellt noch beantwortet. Es gibt nur einen müden Satz im Schlussteil, der da lautet: „Deutsch darf dieses neue Europa nicht werden – das würde nicht gelingen“.

Stefan Kornelius: Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Welt, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013, 284 Seiten, 19,99 Euro.