16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Freywerberey

von Dieter Naumann

Auf Mönchgut durfte einst nur heiraten, wer über ein eigenes Gehöft verfügte. Wurde ein solches Gehöft an eine Tochter vererbt, so kam die sogenannte Freywerberey (auch Freijagd genannt) zur Anwendung, bei der die erbende Tochter wie ein männlicher Erbe um einen Ehegatten werben durfte, damit der Hof weitergeführt werden konnte. Dieses von den Mönchgutern „Jagen“ oder „Na ehn´ utstellen“ (nach Einem ausstellen) genannte Vorgehen schilderte der zu seiner Zeit bekannte Musikkritiker der Vossischen Zeitung, Friedrich Rellstab, nach seiner Rügenreise 1797: „Die Heyrathslustige sucht sich unter den unverheyratheten Mannspersonen einen aus, den sie zum glücklichen Besitzer ihrer Person und ihrer Güter machen will, und schickt alsdenn bey Nacht und Nebel Freywerber aus.“ Die so Begehrten baten sich zumeist etwas Bedenkzeit aus, nach der sie eine Antwort geben wollten. „Fällt diese nun verneinend aus, wie wohl geschieht, so hüllt das begehrte Männchen, den dem Mädchen gegebenen Korb hübsch in süßen Worten ein. Als z. B.: Er habe nichts wider die werthe Person, habe aber noch nicht Lust zur Heyrath, aber sey bereits anderwärts verplempert, u. d. m. Solch empfangener Korb thut der Dame dann auch weiter nichts, weder am Ruf noch am Herzen: Sie jägt weiter, bis sie gute Jagd macht.“
Für Aufregung soll einst die einzige Tochter einer achtbaren Familie, Dürte Looks, gesorgt haben, als sie bei der „Jagd“ nach einem Ehegatten statt eines reichen Hoferben einen Knecht wählte. Der war zwar stattlich und klug, hatte jedoch einen entscheidenden Nachteil – er war völlig mittellos. Die aufgeregten Nachfragen aus Familie und Nachbarschaft beantwortete die junge Frau mit den Worten: „Ik nähm´ leiwer´ n Mann ohne Geld, als Geld ohne´n Mann.“
Sofern eine Witwe erbte, musste sie „eigentlich“ zunächst ein Trauerjahr vollenden, ehe sie wieder heiraten durfte. Da in diesem Jahr jedoch die Wirtschaft des bäuerlichen Gutes leiden würde, ging sie „zum zeitigen Pächter der Herrschaft“ und sagte ihm, „auf wen sich ihr noch thränendes Auge gerichtet habe“. Der Herr rief diese Mannsperson und „sondirt ihn, ob er bey der zur gehörigen Zeit angestellten Jagd der Witwe, sich werde gern einfangen lassen“. Wenn er dies versprach, so Rellstab weiter, „so zieht der Erwählte sogleich ein und versieht die Wirthschaft, und muthmaßlich auch die betrübte Witwe, um wenigstens eins der von Thränen noch trüben Augen, mit hochzeitlichem Glanze zu füllen …“
Über die sich auf diese Weise „einheiratenden“ Männer meinten böse Zungen auf Mönchgut: „Hei is Herr in´n Hus, un hett in de Stuw nix tau seggen“ (Er ist Herr im Haus und hat in der Stube nichts zu sagen). Dazu passt, dass einige Bräute bei der Trauung ihren Fuß auf den des Bräutigams setzten, um ihren „Herrschaftsanspruch“ zu dokumentieren.
Die speziellen Formen der Partnersuche fanden sogar Eingang in die früheren Reiseführer. So wusste Richters Reiseführer Rügen von 1914 zu berichten: „Reiche Mädchen wählen selbst ihre Freier. Sie hängen ihre Schürze vor die Tür und lassen dann die Heiratskandidaten an sich vorüberziehen. Der Erwählte wird hereingerufen und als Bräutigam begrüßt.“ Teilweise soll dem „Herzerkorenen“ auch das Taschentuch der Heiratswilligen geschickt worden sein.
Der Theologe, Journalist, Schriftsteller, Abgeordnete und Theaterdirektor Heinrich Laube berichtete 1836 allerdings, dass Eltern und Verwandte hin und wieder Einfluss auf die Wahl zu nehmen versuchten: „Sind nun Eltern und Verwandte gegen eine Liebschaft, so wählen sie den Zeitpunkt, wo der Liebste zur See ist, und den Schürzengang nicht mitmachen kann. Da steht nun das arme Mädchen weinend hinter der Schürze und schilt das Meer und hofft, es werde hereintreten in´s Land und das Boot des Geliebten im Bereich der Schürze stranden. Weinend kuckt sie aber doch durch die Lücke, ob nicht wenigstens ein leiblicher Stellvertreter gewählt werden könne.“
Handfeste Versorgungsinteressen als häufiges Kriterium der Partnerwahl stellte auch die in Bisdamitz auf Rügen geborene Franziska Tiburtius fest, Deutschlands erste Ärztin. In ihren Erinnerungen einer Achtzigjährigen findet sich das Gedicht eines unbekannten Verfassers. Ein junges Mädchen hat als Zeichen der Partnerwahl seine Schürze an die Tür gehängt, wird aber von der Mutter zurückgehalten, seinen Liebsten, den armen Krischan, auszuwählen. Am Ende heißt es in der dritten Strophe:

De rike Michel stolzt heran,/ Min Mudder stödd mi rut,/
Dat Hart so weih, in´n Og dei Tran,/ Un ick bün Michels Brut.

Der reiche Michel stolziert heran,/ Meine Mutter schubst mich ´raus,/
Das Herz tut weh, Tränen in den Augen,/ Und ich bin Michels Braut.

Eher amüsant als ernst zu nehmen ist eine Erklärung, die Friedrich Zöllner, vielseitiger Gelehrter und Akademiemitglied, bei seiner Rügenreise 1795 gegeben wurde, über die er in der damals beliebten Briefform berichtete. Ihm habe ein Herr in Stralsund erstmals von dieser Sitte der Partnerwahl mit Schürze oder Taschentuch erzählt, und jener habe „den Ursprung derselben in der Schläfrigkeit der dortigen Männer, die erst durch die lebhafteren Mädchen zur Ehelustigkeit gereizt werden müssten“, gesucht.
Die Freywerberey schien neben den oben geschilderten wirtschaftlichen Aspekten auch Ausdruck der Wertschätzung der Frauen auf Mönchgut zu sein. Immerhin mussten sie – während die Männer entweder Ackerbau oder Fischfang und später Lotsendienste und Seeschifffahrt betrieben – neben dem Haushalt einschließlich Kinderbetreuung und Anleitung des Gesindes auch noch das Vieh versorgen, die Kleidung herstellen oder ausbessern, Krankenpflege ausüben und die Haushaltskasse („Utgäbegeld“) verwahren. Es verwundert deshalb nicht, dass der Berliner Journalist Gustav Rasch berichtete, „mit Recht sagt der Mann auf Mönchgut häufig von seiner Frau, wenn er in der dritten Person von ihr spricht – mein Herr…“.
Nicht zuletzt durch die spezielle Art von „Damenwahl“ sollen die Ehen auf Mönchgut besonders friedlich und zufrieden verlaufen sein. „Nie hat man von Ehescheidungen oder nur von Beschwerden über ungebührliche Behandlung des einen oder des andern Theils gehört“, schrieb Carl Schneider in seinem Reisegesellschafter von 1823.
Waren einmal geschlossene Ehen einerseits also zumeist von langer Dauer, in der Regel bis zum Tod eines der beiden Partner, so sah andererseits niemand etwas Ungehöriges darin, wenn zum Beispiel der unverheiratete Knecht und die unverheiratete Dirne hin und wieder gemeinsam in einer Kammer übernachteten. „Jung Blaud will uttowen“ (Junges Blut will sich austoben) hieß es dann …

Dr. Dieter Naumann arbeitet als polizeilicher Fallanalytiker in Eberswalde.