16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Walter Laqueur über ein Europa in der Krise

von Mario Keßler

Walter Laqueur, 1921 in Breslau geboren und 1938 nach Palästina emigriert, war Direktor des Center for Strategic and International Studies an der Georgetown University in der US-Hauptstadt Washington. Der Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Sowjetunion, des Zionismus und des Nahostkonfliktes, zur deutschen Geschichte nach 1918 sowie zum Terrorismus gilt als einer der renommiertesten und vielseitigsten Historiker der Gegenwart. Europa nach dem Fall ist nicht sein erstes Buch zur europäischen Zeitgeschichte, wohl aber sein bisher am prononciertesten die nähere Zukunft des Kontinents auslotendes. Dies ist Laqueurs Prämisse: „Der Niedergang Europas scheint offensichtlich, was die vorhersehbare Zukunft betrifft, aber es muss kein Zusammenbruch sein. Was lässt sich tun, um eine weiche Landung und vielleicht sogar eine Erholung zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu bewerkstelligen?“
Laqueur bietet eine Vielzahl von Fakten aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben Europas mit Schwerpunkten auf Deutschland, England und Frankreich, und er macht klar, dass die europäische Integration seit den 1950er Jahren ein zentrales politisches Projekt war. Das Buch zeigt, wie Integration, Zuwanderung und Bevölkerungsschwankungen das Bewusstsein der verschiedenen Nationen, Klassen, Ethnien und Sub-Ethnien, die in Europa wohnen, umformten. Laqueurs Prognose einer drastischen Abnahme der Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten, der nicht alle Demographen zustimmen, verdiente, intensiver diskutiert zu werden. Hier aber soll nur ein einziger Aspekt des äußerst vielschichtigen Buches hervorgehoben werden, nämlich die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der europäischen Integration angesichts der Finanzkrise (ein Thema, das das nicht nur in der Partei Die Linke kontrovers diskutiert wird).
Die europäische Integration war, wie Laqueur zeigt, vor allem ein Projekt der wirtschaftlich und politisch Herrschenden, weniger der arbeitenden Klassen. Gefordert war eine umfassende Modernisierung der Volkswirtschaften auf kapitalistischer Grundlage mit immer stärkerer Dominanz des Privatkapitals. Die von Laqueur dargestellte und (mitunter zu vorsichtig) kritisierte neoliberale Sozial- und Verteilungspolitik der letzten drei Jahrzehnte half, die Vermögenswerte wie die Machtbasis der „Eliten“ zu konsolidieren und auszubauen. Dem dienten die Öffnung der sozialen Sicherungssysteme für die Finanzmärkte sowie die stetig vorangetriebene Privatisierung öffentlicher Güter und Unternehmen, vor allem der staatlichen und kommunalen Infrastruktur. Dies aber brachte laut Laqueur den europäischen Gesellschaftsvertrag zwischen Kapital und Arbeit ins Wanken, was die neoliberalen Politiker und Wirtschaftsweisen jedoch in Kauf nahmen:
„Die Sozialprogramme beruhten auf einem Gesellschaftsvertrag, und wenn es diesen Vertrag nicht mehr gibt, erscheinen politische Konflikte unausweichlich. Das würde nicht bloß unerfüllte Erwartungen bedeuten, sondern den Lebensstil umkrempeln, an den die Bürger Europas gewöhnt sind. Es würde ein merkliches Absinken des Lebensstandards und der Lebensqualität bedeuten. Wenn Bürgern Dienstleistungen nicht mehr gewährt werden können, die als selbstverständlich galten, könnte das früher oder später zu einem politischen Erdbeben führen, und selbst ein lethargisches Europa könnte Gewalt erleben. Niemand kann vorhersagen, wie sich die Proteste gestalten werden – womöglich eine populistische Reaktion, die sich sowohl nach links als auch nach rechts mit autoritären Auswüchsen entwickeln und das Ende der politischen Parteien und des parlamentarischen Systems herbeiführen könnte, wie es sie in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegeben hat.“
Laqueur kritisiert die Idee des Ausstiegs aus dem Euro als gemeinsamer Währung. Er wendet sich gegen die Illusion, die Rückkehr zu nationalen Währungen könnte die Ursachen der Krise beseitigen. Dies würde nichts an den aufgeblähten, neue Krisen heraufbeschwörenden Finanzvermögen mitsamt deren ungehemmtem Willen zur Überspekulation ändern.
Ebenso zeigt das Buch, dass eine Rückkehr zur Drachme, Lira oder zum Escudo zwar eine Abwertung der alt-neuen Währung und damit eine Steigerung der Exporte ermöglichen würde. Doch ohne eine strukturelle Änderung der Wirtschaft – Laqueur zögert, die Eigentumsfrage aufzuwerfen – sei weder an eine Steigerung der Produktivität, noch an eine Verbesserung der Infrastruktur oder an eine Beseitigung der Mängel im Verwaltungsapparat zu denken. Vielmehr würden sich die Importe an Industriegütern oder Technologie einschneidend verteuern. Die dadurch unumgängliche Senkung der Kaufkraft breiter Schichten würde trotz aller Sparprogramme keines der Probleme lösen, sondern die Krise fortdauern lassen.
„Die von den extremen Linken vorgeschlagene Politik – Schröpfe die Reichen! – war bei den europäischen Gegebenheiten auch nicht zielführend“, schreibt Laqueur, der jedoch zugleich einräumt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich jedes vernünftige Maß überschritten hat. Geht es wirklich um ein „Schröpfen“? Gefordert sind öffentliche Investitionen und eine breite berufliche Qualifizierung der Jugendlichen, die (was auch Laqueur als große Gefahr sieht) weitgehend weder auf dem Arbeitsmarkt noch sonst irgendwie in die Gesellschaft integriert sind. Dies sind die Voraussetzungen für eine Ausweitung der Binnenökonomie, die eben gerade mit einer – demokratisch zu legitimierenden – Abschöpfung liquiden Kapitals durch eine erhöhte Vermögenssteuer einher gehen müsste, wozu aber auch die (von Laqueur mit Sympathie bedachten) sozialdemokratischen Führungen bislang nicht bereit sind.
Der Niedergang Europas, schreibt Laqueur, könne mittelfristig aufgehalten werden, wenn sich die verschiedenen politischen Kräfte über alle Interessen- und Klassengegensätze hinweg gemeinsam dazu bereit finden, den Gesellschaftsvertrag, auf dem der europäische Sozialstaat beruht, zu bewahren. Gelinge dies nicht, sei eine friedliche Entwicklung Europas in den nächsten Jahren unwahrscheinlich. „Eine solche Entwicklung würde zu radikaler politischer Veränderung führen, die von Gewalt begleitet wäre. Sie könnte zur Folge haben, dass nicht nur die Finanzinstitutionen, die ja die Krise verursacht haben, zusammenbrechen, sondern auch die gegenwärtigen politischen Institutionen. Ob die alte oder neue Linke davon profitieren würde, ist nicht sicher. Früher einmal galt die Arbeiterklasse als der Hauptmotor sozialer Reformen, sogar der Revolution. Doch die Arbeiterklasse ist geschrumpft und ihre ethnische Zusammensetzung hat sich stark verändert. Sie besteht nun zu einem beträchtlichen Teil aus Immigranten und ihren Nachkommen und deren politische Orientierung ist nicht links. Die Mittelschicht, deren Lebensstandard und Einkommen schon vor Einsetzen der Krise gesunken waren, und insbesondere die junge Generation, vor allem die Studenten, werden im Kampf gegen das derzeitige System an vorderster Front stehen.“

Walter Laqueur: Europa nach dem Fall. Aus dem Englischen von Klaus Pemsel, Herbig, München 2012, 358 Seiten, 24,99 Euro.