16. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2013

Jenseits des Horizontes

von Fritz E. Gericke

Bei dem Horizont, um den es sich hier handelt, ist nicht die leicht gekrümmte Linie gemeint, die wir ganz weit hinten erkennen, wo wir, wenn wir am Strand liegen, sehen, wie sich Meer und Himmel vereinigen. Über diese Linie hinaus reicht unser Auge nicht, selbst wenn wir uns noch so anstrengen, dort endet der sichtbare und damit erkennbare Teil unserer Erde. Diese Begrenzung des Erkennens war schuld daran, dass unsere Altvorderen glaubten, unsere Erde sei eine Scheibe.
Gemeint ist vielmehr der geistige Horizont, das heißt die Grenze, die wir mit unserem Denk- und Vorstellungsvermögen nicht überschreiten können. Was dahinter liegt, ist die spirituelle terra incognita. Wenn wir sie beträten, würden wir uns sozusagen jenseits unseres geistigen Horizontes bewegen. Selbstverständlich ist es möglich, die Grenze unseres geistigen Horizontes zu überschreiten: Molekularbiologen, Astrophysiker, Philosophen und auch Politiker tun dies immer wieder und haben hin und wider auch Erfolg damit. Was die Genannten dann erklären, überschreitet meist das geistige Fassungsvermögen eines Durchschnittsbürgers. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.
Der Bundesminister für Verteidigung, Hoffnungsträger seiner Partei (wie schon sein Amtsvorgänger) hat (ebenfalls wie sein Amtsvorgänger) eine nicht jedem Bürger ohne weiteres zugängliche Vorstellung von dem Begriff Wahrheit. Er erklärt, im Bewußtsein zu Unrecht der Unwahrheit bezichtigt zu werden, er sei nicht rechtzeitig von dem drohenden Debakel um die Aufklärungsdrohne Euro Hawk unterrichtet worden. Nach Ansicht des unbedarften Bürgers, von dessen Spezies es ja viele gibt und zu denen ich auch gehöre, war er sehr wohl informiert, und zwar durch ein Gespräch auf dem Flur. Also hat er, bei allem Respekt, gelogen. Nein, sagt er, es hätte wohl ein Gespräch auf dem Flur gegeben, aber ein Gespräch auf dem Flur sei keine Information, dazu hätte ein schriftlicher Report auf seinem Schreibtisch liegen müssen. Wenn mein Nachbar mir also im Treppenhaus sagt, dass bei mir eingebrochen wurde, dann ist das keine Information. Informiert bin ich erst, wenn ich in meine Wohnung komme und auf meinem Schreibtisch ein Report der Einbrecher liegt, dass bei mir eingebrochen worden sei. Können Sie mir folgen? Ich nicht.
Derselbe Minister sagte am 5. Juni im Verteidigungsausschuss des Bundestages auch, die Entscheidung, jetzt die Notbremse in Sachen Aufklärungsdrohne zu ziehen, sei richtig gewesen, auch zum richtigen Zeitpunkt erfolgt. Soweit immerhin hätte diese Einlassung durchaus die Basis für eine Diskussion sein können. Dann aber kam noch dieses: Die Entscheidung sei allerdings fehlerhaft zustande gekommen. Und da stand ich nun wieder und hielt Maulaffen feil, denn das überschritt meinen geistigen Horizont abermals.
Ich habe versucht, die ministerielle Logik von richtig und dennoch falsch zu verstehen, habe es aber nicht geschafft, und deshalb habe ich nach Beispielen aus meinem richtigen Leben gesucht. Da ist mir mein Freund Paul eingefallen, ein gut aussehender Junge, sportgestählt, muskulös, Waschbrettbauch, erfolgreich und immer ein fröhliches Grinsen im Gesicht, so ein Partytyp halt. Irgendwann aber war ihm das mit den Partys nicht mehr genug. Er wollte ein richtiges Zuhause haben, mit einer Frau, die sich um ihn kümmert, die ihm die Hemden bügelt, die Wohnung in Ordnung hält und die vor allem gut kochen kann. Ich weiß, das ist Machodenken. Er ist ja auch ein Macho. Auf einer der vielen Partys traf er auf Ingrid. Ingrid war außerordentlich attraktiv, teilte seine Interessen an Sport und Geselligkeit, und sie war sehr lieb zu Paul, der von ihr jede Menge Streicheleinheiten bekam. „Ich habe die richtige Frau getroffen, gerade noch zur rechten Zeit.“ Und Ingrid sagte: „Er ist der richtige Mann, der zur richtigen Zeit in mein Leben getreten ist. Ich habe mir immer einen starken Mann gewünscht.“ Alles in Ordnung? Nö, denn die beiden haben geheiratet, und das war der Fehler. Ingrid hat nämlich keine Lizenz zum Bügeln, Staubwischen oder gar zum Kochen, und Paul hat keine Lizenz zum Handwerkern oder Getränkekisten schleppen. Zur richtigen Zeit traf zwar der richtige Mann auf die richtige Frau, aber für das tägliche Zusammenleben waren sie nicht zu gebrauchen. Vielleicht wären sie glücklich geworden, wenn sie weiterhin nur geglaubt hätten, der Andere sei der Richtige, dann hätten sie weiter lustige Partys feiern können … Und vergleichbare Konstellationen sind ja beileibe kein Einzelfälle und auch nicht auf den zwischenmenschlichen Bereich beschränkt..
So gesehen kommen anscheinend richtige Entscheidungen zum anscheinend richtigen Zeitpunkt anscheinend auch im richtigen Leben immer wieder vor. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen meinem Beispiel und dem Drohnendebakel. Er besteht ganz schlicht darin, dass die entscheidenden Personen in meinem Beispiel die Konsequenzen aus ihrem Fehler selbst tragen müssen. Sie bezahlen den Mist, den sie gebaut haben, allein. Die Drohnen aber bezahlen andere, und diese Anderen sind wir.
Bleibt zum Trost, dass auch lebendige Drohnen nur in sehr begrenztem Rahmen von Nutzen sind und danach ebenfalls einfach erledigt werden.