16. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2013

Ein Riesengott: Berliner Theaterpreis für Jürgen Holtz

von Reinhard Wengierek

Da steht ein Halbjahrhundert Theatergeschichte auf der Bühne vom Berliner Festspielhaus, einstmals Freie Volksbühne. Der Alte, Jahrgang 1932, wankt ein bisschen und behilft sich mit dem Stock; schließlich haben ihn die Zeiten im geteilten Land hin und her gerissen, ihm auf allen Seiten übel mitgespielt – wie auch seine vielen Rollen. Denn der Schauspieler Jürgen Holtz war nie bloß Zuschauer oder Mitmacher. Er hat sich stets und wo auch immer und mit störrischer Lust gegen alle Zwänge gestellt; ob politische, finanzielle, ästhetische. Doch er war nie nur „gegen“, er war immer auch „für“, verbunden mit sehr großen Hoffnungen und sehr hohen Ansprüchen bezüglich des Politischen und Ästhetischen. Die Fallhöhe in die Wirklichkeit strammer Genossen im Osten wie linksdrehender Eiferer und Ignoranten im Westen war entsprechend, was allerhand Leid bringt. Das wiederum stark machen kann – auch wenn man mit dem Stock nachhelfen muss.
Das Glück großer Kunst kriegt man nicht zum Nulltarif. Kunst sei Kärrnerarbeit, sagt Holtz. Davon hat er uns in seiner Danksagung für den Theaterpreis (20.000 Euro) der Stiftung Preußische Seehandlung, ein monetärer Restbestand aus friderizianischen Zeiten, so einiges erzählt.
Es wurde eine von Wut und Bitterkeit durchwehte, vermächtnisstarke Rede. Es ging um den zunehmenden Abfall vom Glauben an die Kraft des Theaters, an die spielerische Fantasie, an die Wucht der Sprache. Skeptizismus sei die moderne Religion, in der wir uns so gefällig eingerichtet hätten. Wachsende Sinnentleerung bei zunehmender Verlustierung sei unser trauriger Daseinszustand. „Wir tanzen nicht mehr im Theater, wir tanzen nur noch auf ihm herum.“ Auf den Akademien lernten Regisseure und die ihm besonders verhassten Dramaturgen, dass Stücke nichts mehr taugten, es sei denn, man dampfe ein und dichte um – eine alles Talent vernichtende „Seuche“. Wie auch das Wirklichkeit imitierende Fernsehen, das mit seiner Macht des Banalen in die Theater hineinregiere, Quotendruck entfache und dazu führe, dass Rollen nicht mehr gespielt, sondern nur noch verwaltet würden.
Abbau von Aufklärung, Kunstvernichtung, Theaterzerfall, ästhetisch geduldet. Theaterrückbau politisch initiiert. Holtz hackt dagegen. Egomanisch, sendungsbewusst, sich kühn und widerspruchsstark als eherner Solitär sehend in einem kollektiven Gewerbe. „Die so genannten Ensembles hüten heilige Kühe in ungesunden Ställen; sie pflegen ansteckende Krankheiten wie Hochmut, Besserwisserei, Selbstgefälligkeit und Fremdenhass; oder sie sitzen im Kunst-KZ.“
Holtz als wetternder Aufrührer und hemmungsloser Spötter, schon immer: Anfangs, in den 1960er Jahren, in Greifswald, dann im Deutschen Theater Berlin, in der Berliner Volksbühne, im Berliner Ensemble; seit den 1980er Jahren in Hamburg, München, Frankfurt am Main. Und er beschwört auch jetzt „seine“ teuren Toten, die ihm Lehrer, Partner, Freunde waren: Adolf Dresen, Benno Besson, Heiner Müller, Einar Schleef, B.K. Tragelehn, den Brecht, die Weigel, die Giehse. Holtz sieht sich als deren einsamer Erbe. Stehender Beifall.
Selten geschah es, dass die Feier eines Preisgekrönten so schwer war vom Klagen und Fragen. Dennoch kam Freude auf: Als Corinna Harfouch Holtz‘ Lieblingsmärchen von des Kaisers neuen Kleidern vorlas und Klaus Maria Brandauer dem „Gegner auf Augenhöhe“ eine trotzig zärtliche Liebeserklärung stammelte.
Und als Hermann Beil, Dramaturg und Dichter, mit Goethe gratulierte, der den rechten Spieler einen „fantastischen Riesengott“ nannte. So einer sei Holtz, der mit gewiefter Lust und völlig uneitel spiele; ob Hamlet, Kreon, Motzki (das Wessi-Ekel mit gehasster Ost-Verwandtschaft in der TV-Kultserie) oder gerade jetzt am Berliner Ensemble (Claus Peymann gab dem geborenen Berliner dort eine letzte künstlerische Heimat) den steinalten Diener Firs im abgeholzten Kirschgarten. Nie würde es diesem „tollen Kerl“ passieren, jubelt Beil, „aus einer komplexen Figur eine plumpe Missgestalt zu machen“, was auch gegen gewisse Regisseure und Dramaturgen ging.
Ein seliger Moment tröstlich reiner Schönheit schließlich Angela Winklers zärtlicher Gesang mit Robert Schumanns Heine-Lied „Im wunderschönen Monat Mai, / Als alle Knospen sprangen, / Da ist in meinem Herzen / Die Liebe aufgegangen…“
Auf die kecke Frage, wenn Holtz (81) jetzt noch eine freie Gruppe gründete, wie er sie denn nennen würde, da rief er prompt „Holtztransport“. – Was für ein Trotzdem bei aller Resignation. Was für ein Traum von Zukunft, von Weitergabe des Stabs in der Stafette. „Denn der Stab, das bin ich doch nun ganz allein.“ Ach, es ist zu schön und spät, um wahr zu werden.