16. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2013

Querbeet (XXIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Ostberliner DDR-Bürger, Frankfurter Banker, Florentiner Fürsten und ein kostbar klassizistisches Osterei versteckt im Gräflich Reußschen Garten um die Ecke vom Brandenburger Tor.

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Was verbindet den Komponisten Ruggero Leoncavallo (1857-1919) mit seinen Kollegen Puccini, Humperdinck, Wagner? – Er veroperte parallel zu Puccini Henri Murgers „Bohéme“-Roman. Er gilt seit „Bajazzo“ wie Humperdinck seit „Hänsel und Gretel“ als klassischer Ein-Werk-Komponist (die anderen Werke blieben unbeachtet). Er vergötterte Wagner, nahm dessen „Ring“-Tetralogie zum Vorbild und plante ein Opern-Triptychon namens „Dämmerung“, das mit Savonarola, Cesare Borgia sowie den Medici den Aufstieg Italiens besingt.
Es blieb bloß bei „I Medici“, einem kolossalen Sittenbild der Epoche, geprägt von den kunst- und machtbesessenen Fürsten Lorenzo und Giuliano de Medici. Leoncavallo, Komponist und Librettist zugleich, klammerte sich beflissen an die geschichtlichen Fakten (Wagner griff beherzt weit aus ins Mythische) und lieferte ein saftiges Renaissance-Historical um die beiden Florentiner Aristokraten; Uraufführung Milano 1893.
Da geht es um Liebe im Dreieck, cäsarische, mit viel Geld gestützte Herrschaftspraktiken, um antipäpstliche Emanzipation, Volksaufstand und Mord-Anschlag. Das Spektakel prunkt musikalisch aufgewuchtet und melodramatisch hochgeschäumt. Jetzt, nach just 120 Jahren, holt die Oper Erfurt den monumentalen Vierakter aus der prallen Kiste des Vergessenen. Im Graben tosen die Instrumente unter Emmanuel Joel-Hornak. Ballett und Statisterie haben reichlich zu tun und Chor wie Solisten toll zu trällern, was letztere zuweilen an belcantische Leistungsgrenzen treibt. Trotzdem, das opulente Breitwand-Spektakel hätte eine illustre Wiederentdeckung sein können mit gar populärer Breitenwirkung, hätten nicht Regie (Roman Hovenbitzer) und Ausstattung (Roy Spahn) das Hochdramatische mit Albernheit durchsetzt und verkitscht. Nichts gegen die hier pässlichen Elemente der Ausstattungsrevue, doch der immerhin kühn gedachte Mix aus Renaissanceoptik und Gegenwartsbildern geriet nur allzu oft zum lächerlichen Mischmasch. Man sollte es andernorts mutig noch mal versuchen mit der Wiedergeburt des ziemlich exotischen, dabei durchaus eminent politischen Opernthrillers.

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Das Hauptstadt-Theater hier gleich im Doppel, weil mit triftigen Themen.
Deutsches Theater 1: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge.
Trotz stürmischster Zeitläufte strahlt im schlichten Gemüt des alten Wilhelm Powileit ungetrübt das Licht des Glaubens. Nur, der Alte ist kein Katholik, sondern Kommunist. Und hält unermüdlich hoch, was ihm da fackelt an der Spitze radikaler Weltverbesserung in der reinen Farbe Rot. Wer das anders sieht auch in seiner großen Familie, der gehört vor die Kalaschnikow, sagt Wilhelm. Denn die Partei, die hat immer Recht.
Es sind drei Generationen, sehr unterschiedlich erleuchtet, die Eugen Ruge in seiner mit Literaturpreisen überhäuften, lakonisch zu Herzen gehenden Familiensaga beleuchtet. Nun kam der in 21 Sprachen übersetzte Bestseller-Roman aus dem Jahr 2011 als vom Autor selbst verfertigtes Stück zur Uraufführung auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin.
Es ist die Erzählung über eine Flucht vor dem Nazi-Faschismus ins mexikanische und sowjetische Exil, eine Erzählung über Gulag und West-Emigration und über die Rückkehr 1952 ins DDR-Berlin, wo man dank Dogmatismus und Opportunismus Karriere machte. So aufschlussreich diese Geschichte von der Hoffnung auf ein sozialistisches Deutschland und vom Untergang dieses Ideals in zunehmender Verfinsterung aufgeblättert wird, die damit einhergehenden Geschichten vom tragischen Verfall einer Familie in Zank und Entfremdung, mithin das packend Menschlich-Allzumenschliche, das bleibt in der Regie von Stephan Kimmig seltsam blass. Es ist, als würde da, hin und her springend zwischen Zeiten und Jahren (von 1920 bis 2001), ein Bildchenbuch aufgeschlagen, für das die wunderbaren Schauspieler höchstens die Unterschriften hergeben. Und über allen und allem lastet schwer die düstere Melancholie der verlorenen Illusionen. Sowie eine gewisse bittere Ratlosigkeit angesichts einer großen Vergeblichkeit. Der verfällt auch die Regie, was wiederum dem Theater, dem dramatischen Spiel höchst abträglich ist. So verbreitet sich allzu oft nur schwarz gerahmter Leerlauf.

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Deutsches Theater 2: „Das Himbeerreich“ von Andres Veiel.
Schon vor der Premiere war die Aufregung riesig: Endlich das große Erklärstück zur Finanzkrise! Der Medienauftrieb enorm; der Finanzminister ward gesichtet, sogar die Kanzlerin, wurde gemunkelt, würde kommen wollen. Kann sie sich sparen! Denn die fünf Banker nebst einem Chauffeur, die da auftreten im „Himbeerreich“ (eine Umschreibung für paradiesische Zustände), die reden zwar unentwegt, sagen aber nix Neues über den zunehmend zerstörerischen Größenwahn von Leuten, die mit gigantischen Geldsummen fremder Leute Ping-Pong spielen. Und dass dieses Milliardenvergnügen längst keiner mehr wirklich beherrscht und begreift, weiß mittlerweile jeder Ortssparkassenkunde.
Da hat nun der großartige Dokumentarfilmer Andres Veiel („Blackbox BRD“ zum Thema RAF, „Der Kick“ zum Thema Jugendgewalt) bei zwei Dutzend Bankern Berufsbefragungen durchgeführt und aus dem gigantischen Materialberg etwa drei Prozentchen gefiltert für eine anstrengende 90-Minuten-Schauspielerherumsteh-Veranstaltung, die kein Theaterstück ist, sondern ein Lesetext nebst Fleißübung. Passt bestens beispielsweise ins Ressort „Dossier“ diverser Wochenzeitungen. – Aber wenn es nun schon unbedingt im Theater sein muss, dann bitte als reine Lesung. Alles andere bleibt Aufblaserei. Man hätte sich also Veiels Regie und Bühnenbild – Bürosessel im Banker-Loft mit Rauf-und-runter-Fahrstuhl – getrost verkneifen und stattdessen schlicht fünf Stühle für die Sprecher an einen Tisch vor der Rampe stellen sollen als Ablage für die Manuskripte. Auch hätte man so die Auswendiglernerei gespart; obendrein die Souffleuse. Der ganze Aufwand ist ja redlich gemeint. Doch ein Thema allein, auch wenn es noch so brennt, macht noch keine Theaterkunst. Die muss über alles Gesprochene hinausgehen. Muss im Spiel einen Mehrwert bringen an Erkenntnis und Gefühl. Ansonsten: keine Theaterkunst.

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Der späte Schnee der Saison vor Ostern macht den Gräflich-Reussischen Garten zu Berlin noch einmal zum Wintertraum: Die Eiben weiß wattiert, die Linden ein Filigran in Silber vor nun doch schon ziemlich gleißender Sonne. Dazwischen in vornehmer Stille ein gelblich strahlender, eleganter kleiner Zentralbau gemäß der Villa Rotonda des italienischen Architekten Palladio – und das inmitten der nordischen Stadt unweit der krachenden Friedrichstraße.
Heute ist der Reussche Garten der Park hinter dem Charité-Hochhaus Humboldt-Uni. Und der von Palladio inspirierte Bau stammt von Carl Gotthard Langhans; einst das Tieranatomische Theater, das der berühmte Architekt im Auftrag König Friedrich Wilhelms II. als Herzstück der neu gegründeten Tierarzneischule 1789/90 (zeitgleich mit dem Brandenburger Tor) entwarf und errichten ließ. Es gilt als ältestes erhaltenes akademisches Lehrgebäude Berlins und diente der Ausbildung von Rossärzten für die Preußische Kavallerie sowie der Bekämpfung von Tierseuchen. Das kostbare Gehäuse wurde in den vergangenen sieben Jahren äußerst aufwändig und akribisch restauriert und mit einem kleinen Museum bestückt. Es lockt zu einem so lehrreichen wie entzückenden Theaterbesuch. Vielleicht im Frühling, falls er denn kommt bis zum nächsten Querbeet.