von Bernhard Mankwald
Wie kann man als politischer Gefangener schreiben? Diese Frage ist ein Schlüssel zu Antonio Gramscis letzten Aufzeichnungen, die als „Gefängnishefte“ bekannt sind. Bemerkenswert ist zunächst einmal die Tatsache, dass Gramsci, der trotz seiner parlamentarischen Immunität zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, überhaupt schreiben durfte. Dahinter stand wohl die Einsicht, dass für diesen Gefangenen eine geistige Betätigung lebensnotwendig war. So überstand Gramsci etliche Jahre der Haft, wurde dann todkrank noch als Häftling in ein Krankenhaus eingeliefert und konnte es auch nach dem formellen Ende der Haft nicht mehr verlassen.
Gramscis Notizen entstanden also mit offizieller Billigung seiner Kerkermeister in Heften, die einen amtlichen Vermerk trugen – und mussten daher auch jederzeit einer amtlichen Kontrolle standhalten. Verlangt war deshalb ein Höchstmaß an Selbstkontrolle. So erwähnt Gramsci seinen Feind Mussolini stets als „Regierungschef“ – unter anderen Umständen hätte er gewiss farbigere und mindestens ebenso treffende Ausdrücke gefunden. Als Beispiel für die Strukturen der bürgerlichen Herrschaft wählte er das republikanische Frankreich; die Parallelen zur faschistisch regierten Monarchie Italien blieben unausgesprochen. Auch seine Kritik muss man zwischen den Zeilen lesen: indem er die geschilderten Verhältnisse im fremden Land als Normalfall darstellte, kennzeichnete er gleichzeitig die despotische Herrschaft im eigenen als abnorm. Sie sollte ihn denn auch nicht einmal um ein Jahrzehnt überleben. Der Beitrag von Razmig Keucheyan im Blättchen 21/2012 zeigt, wie anregend die Ideen Gramscis gerade in Regionen gewirkt haben, die vom Westen in untergeordneten Positionen gehalten wurden. Darüber sollte man aber nicht vergessen, wie viel Gramsci auch über die entwickelten Länder sagt. Und dazu ist seine Beschreibung der damaligen Zustände in Frankreich sehr geeignet.
Gramsci bezeichnet die Normalform der bürgerlichen Herrschaft als Hegemonie oder Vorherrschaft; er knüpft damit an Engels an, der bereits vom langjährigen Kampf der englischen wie der französischen Bourgeoisie um eine solche Position sprach. Diese Hegemonie ist nun nach Ansicht Gramscis gekennzeichnet „durch die Kombination von Zwang und Konsens“ – und diese Verbindung findet man in auch unseren gegenwärtigen Verhältnissen.
Als „Zwang“ wird man zunächst die Anwendung physischer Gewalt verstehen. Im Inland spart der Staat sich diese zurzeit für Anlässe auf, die es ihm wirklich wert sind: die Durchsetzung von fragwürdigen Bahnhofsprojekten, Atommülltransporten oder auch ungestörten Gipfeltreffen. Im Ausland ist man da ungenierter, achtet aber stets auf ein humanitäres Deckmäntelchen. Zwang wird heute aber auch millionenfach durch Versagen lebensnotwendiger Leistungen gegen Arbeitslose ausgeübt, um sie zu penibler Befolgung der Vorschriften zu bewegen. Die Initiatoren solcher „Reformen“ versprachen ihnen dafür den Zugang zum Arbeitsmarkt; in Wahrheit ist es wohl eher der Weg in die erlernte Hilflosigkeit.
Das nötige Maß an Konsens wird in möglichst langen Zeitabständen durch Wahlen bekundet. Wie wir es jetzt wieder bei der Nominierung von Peer Steinbrück sahen, setzt man innerparteilichen Konsens dabei jedoch gern voraus. Diejenigen Sozialdemokraten, die sich als Kandidaten einen authentischen Vertreter ihrer Werte und Interessen wünschen, sehen in die Röhre. Wie weit aber die Linke generell von einer eigenen Hegemonie entfernt ist, kann hier nicht erörtert werden.
Als Zwischenform zwischen Zwang und Konsens nennt Gramsci schließlich noch „Korruption-Betrug“. Darunter versteht er „die Zermürbung und Lähmung, die … den Antagonisten zugefügt werden, indem deren Führer heimlich oder, bei auftretender Gefahr offen, gekauft werden“. Aufmerksamen Beobachtern der politischen Szene fällt vielleicht der eine oder andere merkwürdige Vorfall ein, der durch diesen Faktor erklärlich wird.
Der Konsens wird aber nicht nur vorausgesetzt, er wird auch mit einem immensen Propagandaaufwand stets von neuem hergestellt. Presse, Verlage, Privatfernsehen sind größtenteils im Besitz von Großunternehmen und dienen dem Kapitalinteresse auf zweierlei Weise: indem sie selbst Profit erzeugen und indem sie auch für andere profitable Unternehmungen ein günstiges Meinungsklima schaffen. Die öffentlichen Rundfunkanstalten dagegen werden außer von den Parteien auch von Kirchen und Verbänden dominiert. In dieser „Zivilgesellschaft“ sah Gramsci eine der stärksten Bastionen der bürgerlichen Hegemonie. In diesem ganzen Betrieb gibt es sicher viele ehrliche und engagierte Journalistinnen und Journalisten; an den Schlüsselpositionen wird man immer wieder Gestalten entdecken, deren oft durchaus beeindruckende Rhetorik nur eine Hülle für konsequente Interessenpolitik ist.
Jeder gesellschaftliche Wandel, der diesen Interessen zuwiderläuft, kann daher nur durch Kampf gegen die Hegemonie errungen werden – und besonders durch Kampf gegen einen Konsens, der mehr durch Lautstärke und ständige Wiederholung erzielt wird als durch die Qualität der Argumente. Denjenigen, die einen solchen Wandel wollen, zeigt Gramsci also ihre Gegner. Indirekt zeigt er ihnen aber auch potentielle Verbündete: sie müssen sich nur umsehen, wer im gleichen Sinne wirkt wie sie.
Schlagwörter: Antonio Gramsci, Bernhard Mankwald, Hegemonie