von Thomas Ruttig
Die letzten der 33.000 zusätzlichen US-Truppen haben im September Afghanistan verlassen, die Präsident Barack Obama Anfang 2010 dorthin geschickt hatte, um die Aufstandsbewegung der Taleban in die Defensive zu drängen. Die Maßnahme habe „ihre Ziele erreicht“, erklärte Verteidigungsminister Leon Panetta Anfang Oktober. General Martin Dempsey, als Chef des Vereinigten Stabes der US-Streitkräfte höchster US-Militär, präzisierte, man habe „Zeit für ein paar Taleban-Initiativen und Raum zur Verstärkung der afghanischen Sicherheitskräfte kaufen können“. Damit soll suggeriert werden, man habe die Situation im Griff und könne, wie angekündigt, Ende 2014 die meisten NATO-Kampftruppen abziehen, ohne dass die Regierung in Kabul zusammenbricht.
Die USA haben immer noch 68.000 Soldaten in Afghanistan, das größte Kontingent in der ISAF-Schutztruppe mit insgesamt knapp 110.000 Angehörigen. ISAF wird 2014 beendet, aber eine neue NATO-Mission zur Ausbildung, Unterstützung und Ausrüstung der afghanischen Streitkräfte tritt an ihre Stelle. Außerdem werden Sondereinheiten weiterhin „Terroristen bekämpfen“. Das US-Militär baut auch unverändert Schlüsselbasen in Afghanistan aus, darunter in Mazar-e Scharif, direkt neben dem Bundeswehrhauptlager, und in Schindand, nahe der iranischen Grenze. Der BND rechnet – nach einem geleakten Report – mit bis zu 35.000 westlichen Soldaten auch nach 2014.
In diesem Kontext bemäntelte US-Vizepräsident Joe Biden die reale Lage, als er verkündete: „Wir ziehen ab – Punkt.“. Obama ist da schon genauer: 2014 werde das „Ende des Krieges, wie wir ihn kennen“.
Die afghanische Armee und Polizei sind tatsächlich auf eine Personalstärke von 352.000 Mann gewachsen. Aber die Qualität ihrer Ausbildung und ihre Moral haben dabei nicht mitgehalten. Das bestätige jüngst sogar der Chef des Rekrutierungszentrums der afghanischen Armee, Oberst Akbar Stanikzai, gegenüber der New York Times: „Die Nachricht vom amerikanischen Abzug hat unsere Moral geschwächt und die des Gegners gestärkt.“ Viele befürchten, dass die Streitkräfte entlang ethnischer oder politischer Bruchlinien zerfallen und sich in einem möglichen Bürgerkrieg unterschiedlichen Fraktionen anschließen könnten, wie das nach dem sowjetischen Abzug 1989 geschehen war – vor allem wenn die Bezahlung ausbleiben sollte. Deshalb beschloss die NATO auf ihrem jüngsten Gipfel in Chicago im Mai, nach 2014 noch 4,1 Milliarden US-Dollar jährlich zuzuschießen. Afghanistans Staatshaushalt wird gegenwärtig zu etwa 95 Prozent aus externen Quellen gedeckt, und das wird sich bis 2014 nicht grundsätzlich ändern.
Hingegen sind Sondierungsgespräche zwischen US-Vertretern und Taleban, die Anfang des Jahres in Qatar begannen, schon wieder zusammengebrochen. Die Aufständischen suspendierten sie im März mit dem Vorwurf, Washington habe Zusagen nicht eingehalten. Die US-Verhandlungsführer hatten Hoffnungen geweckt, fünf in Guantanamo einsitzende hochrangige Taleban-Führer könnten in das gastgebende Golfemirat verlegt werden und das Verhandlungsteam der Taleban verstärken. Doch der republikanisch geführte Kongress blockierte im Wahljahr diese Option. Seither hat sich nicht mehr viel getan.
Vor allem aber wurden die Taleban, entgegen den US-Erfolgsmeldungen, nicht entscheidend geschwächt. Sie erlitten zwar schwere Schläge – erst letzte Woche wurden zwei ihrer Provinz-Schattengouverneure getötet beziehungsweise gefangen genommen –, aber ihre Strukturen sind nach wie vor in Takt und es mangelt ihnen nicht an Zulauf. Sie operieren inzwischen ausnahmslos in allen Provinzen, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Ihre Hochburg bleiben die Südprovinzen um Kandahar. Dort befinden sich, laut Pentagon-Angaben und trotz fast dreijähriger US-Truppenaufstockung, immer noch die zehn gefährlichsten Distrikte des Landes. Doch durch die eskalierten Kämpfe wurden dort vielerorts die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstört: Obstgärten wurden niedergewalzt, weil sie Taleban-Kämpfern als Verstecke dienen. Eine afghanische Regierungskommission beziffert die Verluste allein für die drei Distrikte Panjwayi, Zhari und Maiwand auf 100 Millionen US-Dollar. Und im Landesnorden, wo die Bundeswehrsoldaten stationiert sind, hat die Taleban-Aktivität deutlich zugenommen.
In Afghanistan selbst sieht man, dass die Amerikaner ihre eigenen Erfolgsmeldungen nicht glauben und den afghanischen Sicherheitskräften wenig zutrauen. Über die letzten Jahre mobilisierten sie eine ganze Reihe unterschiedlicher Milizen als Hilfstruppen. Das neueste Programm läuft seit 2010 unter dem Etikett „Afghanische Lokalpolizei“ (ALP), die nach letzten vorliegenden Zahlen derzeit 16.000 Mann zählt und in 31 der 34 Provinzen operiert – obwohl, wie die Los Angeles Times schrieb, „das Pentagon und die afghanische Führung besorgt sind, dass solche Dorf-Selbstverteidigungseinheiten sich in kriminelle Banden verwandeln oder zu den Taleban desertieren könnten“.
Dazu kommen zahlreiche so genannten „illegale Milizen“, größtenteils übriggebliebene Gruppen aus den Bürgerkriegen der 1990er Jahre und dem Kampf gegen die Taleban, die nach deren Fall Ende 2001 eigentlich entwaffnet werden sollten. Manch ehemaliger Milizkommandeur hat seine Leute wieder zusammengetrommelt, um der ALP beizutreten, es aber nicht durch die Rekrutierungskommission geschafft. Da Waffen reichlich vorhanden sind, gehen die gescheiterten Rekruten dann aber nicht wieder nach Hause, sondern fallen der örtlichen Bevölkerung zur Last, erpressen ebenso „religiöse Steuern“, wie die Taleban es machen, oder plündern ganz offen.
Ein Schwerpunkt solcher Milizen ist die Provinz Kunduz im Verantwortungsbereich der Bundeswehr. Anfang September überfielen dort mehrere hundert solcher Kämpfern das Dorf Loy Kanam, nachdem zuvor einer ihrer Leute von Taleban umgebracht worden war. 13 Zivilisten kamen ums Leben. Die angeblich besser kontrollierte ALP verursacht ähnliche Probleme. Im Sommer massakrierte eine ihrer Einheiten, die zur Minderheit der Hazara gehört, in der Provinz Uruzgan 15 paschtunische Dorfbewohner – ebenfalls in einer Racheaktion nach einem Taleban-Angriff. Laut dem obersten afghanischen Militärstaatsanwalt waren im August über 100 ALP-Kämpfer wegen „Mordes, Bombenanschlägen, Vergewaltigung, tätlicher Angriffe und Raubes“ in Haft. Eine Studie im Auftrag des US-Spezialkräftekommandos (JSOC), über die im Mai US-Medien berichteten, hat jedes fünfte JSOC-Team – sie arbeiten als Mentoren dieser Milizen – Fälle von ALP-Gewalt gegen Zivilisten angezeigt. Die Studie stellt ebenfalls fest, dass „in den meisten“ der 78 von der ALP patrouillierten Distrikte die Sicherheitssituation „nicht signifikant unterschiedlich“ zu der in Distrikten ist, wo es keine ALP gibt. Angesichts dieser Gesamtsituation haben afghanische Parlamentarier die Milizen als „eine Hauptgefahr für die Sicherheit Afghanistans“ bezeichnet.
Das bestätigt die Feststellung der renommierten norwegischen Afghanistan-Expertin Astri Suhrke, dass Afghanistan nach 2014 vor allem aus „schwachen Institutionen und einer Menge bewaffneter Männer“ bestehen werde. Das sind Zutaten für einen neuen Bürgerkrieg. Der kann nur abgewendet werden, wenn die afghanische Regierung und ihre westlichen Unterstützer hinreichend öffentlichen Druck bekommen, Reformen in Afghanistan durchzusetzen, die dazu führen, dass Karzais Leute aufhören, sich die Taschen und Konten zu füllen und stattdessen für die Bevölkerung zu arbeiten. Denn bisher sieht die Bilanz nicht gerade beeindruckend aus: Nach Ausgaben in Höhe von 45 Milliarden US-Dollar (die Zusagen lagen noch um ein Viertel höher) und fast elf Jahren Truppeneinsatz steht Afghanistan auf dem Multidimensionalen Armutsindex der UNO nur leicht verbessert immer noch auf Platz 96 unter 105 Entwicklungsländern und, Gender-bereinigt (also die immer noch eklatante Benachteiligung der Frauen in Afghanistan in den Entwicklungsindex einbezogen) sogar auf dem vorletzten Platz. Von 25,5 Millionen Afghanen sind laut Afghanischem Statistikamt 7,4 Millionen unterernährt und weitere 8,5 Millionen an der Grenze dazu.
Schlagwörter: Afghanistan, ISAF, Taleban, Thomas Ruttig, USA