15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

„Der musealen Ungenauigkeit begegnen“

von F.-B. Habel

Was machte Goethe am 20. Mai 1778? War er in Frankfurt? Italien? Weimar? Nein, an diesem Tage fuhr er die Schönhauser Allee entlang, die damals noch „Chaussee nach Pankow“ hieß und ein Lehmpfad war. Froh, nach fünftägigem Berlin-Aufenthalt dem „so verwegenen Menschenschlag“ zu entkommen, begab er sich über Schönhausen nach Tegel. (Dass Goethe sich dort in die Lüfte erheben wollte, ist allerdings kaum anzunehmen.) Der Fakt aber stimmt. Man findet ihn zum Beispiel in Klaus Grosinskis hervorragend recherchiertem Handbuch „Prenzlauer Berg. Eine Chronik“, das 1997 erschien und so erfolgreich war, dass dietz berlin elf Jahre später eine erweiterte Nachauflage folgen ließ. Das war in genau dem Jahr, in dem ein Stück Prenzlauer Berg von der UNESCO zum Weltkulturerbe geadelt wurde. Die 1929/30 von Bruno Taut und Franz Hillinger errichtete Wohnstadt „Carl Legien“ an der Erich-Weinert-Straße (früher Carmen-Sylva-Straße) erhielt als städtebauliche Kostbarkeit der europäischen Moderne das begehrte Gütesiegel. Carl Legien (1861-1920) war übrigens ein verdienter Gewerkschafter und Sozialdemokrat, weshalb der Komplex schon 1933 von den Nazis in „Flandernsiedlung“ umbenannt wurde. Das alles und viel mehr liest man in Grosinskis Chronik, auch, dass der Name „Prenzlauer Berg“ von einem Hügel in der Nähe der heutigen Saarbrücker Straße stammt, der ebenso als „Windmühlenberg“ bekannt war, weil sich hier seit dem 18. Jahrhundert Berlins wichtigster Mühlenstandort befand. Der Autor hat die Geschichte (und Vorgeschichte) des Prenzlauer Berg von 1200 bis 2008 als Chronik dargestellt und damit ein unterhaltsam aufklärendes Standardwerk geschaffen, weder industrielle noch politische Entwicklungen vergessen und auch alle Straßenbezeichnungen erläutert.
Sowohl Kirchen als auch Kinos werden gewürdigt, aber zumindest in einem Fakt ist Klaus Grosinski ein kleines bisschen ungenau. Er weiß zwar, dass am 20. August 1892 die ersten Berliner Filmaufnahmen in der Schönhauser Allee 146 entstanden, verlegt diese aber auf einen Dachboden. Es handelte sich jedoch um das (noch heute genutzte) Atelier des Fotografen-Meisters Wilhelm Fenz, dessen Name insofern historisch ist, als er in Zusammenarbeit mit Max und Emil Skladanowsky auch einer der ersten deutschen Kameramänner war. In der Ferne ist auf den Filmbildern der Turm der gerade errichteten Gethsemanekirche zu erkennen. In der wiederum hat – wie in der Chronik nachzulesen ist – neunzig Jahre später der amerikanische Baptist Billy Graham, das „Maschinengewehr Gottes“ gepredigt. (In den Wende-Wochen von 1989 ließen dann Käthe Reichel und Tamara Danz ihre Stimmen hier ertönen.)
Im Oktober 1999 wurde an der Kastanienallee Ecke Schönhauser ein Boden-Mosaik eingeweiht, das Manfred Butzmann in Erinnerung an Skladanowskys erste Filmaufnahmen geschaffen hatte. Den feierlichen Akt nahm der Kulturstadtrat Burkhard Kleinert vor (der drei Jahre später für eine Wahlperiode Pankower Bezirksbürgermeister werden sollte). Zu dieser Zeit hatte Kleinert sein Leben bereits Annett Gröschner erzählt, die gemeinsam mit Barbara Felsmann dem Phänomen Prenzlauer Berg auf den Grund gehen wollte. Beide führten Ende der neunziger Jahre mit etwa zwei Dutzend Zeitzeugen Gespräche, die zu einem erstaunlichen Buch zusammengeführt wurden. „Durchgangszimmer Prenzlauer“ Berg erschien am Ende des Jahrtausends, war lange vergriffen und wurde in diesem Jahr endlich neu aufgelegt. Verleger Frank Böttcher greift in seiner Einleitung die Entwicklungen auf, die Prenzlauer Berg seit 1990 nahm, und polemisiert mit verhaltenem Ärger dagegen: „Aus einem legendär verrotteten, rauen, urbanen Proletenkiez und Bohèmeviertel ist eine schnieke Residenz von Gut- und Besserverdienenden geworden.“ Auch der Begriff „Prenzlberg“ (wie Prenzelberg oder Prenz’lberg – es schaudert den Eingeborenen beim Niederschreiben!), kultiviert von den zugereisten einstigen „Alternativen“, brandmarkt er als Ausdruck der Veränderungen im inzwischen zu Pankow gehörenden Bezirk. Den Anlass dafür, dass sich Autoren und Verlag entschlossen, eine „Berliner Künstlersozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre in Selbstauskünften“ (wie der Untertitel des Buches lautet) herauszubringen, gab eine unzulängliche Ausstellung im Deutschen Historischen Museum: „Der musealen Ungenauigkeit infolge abstrakter Auswahlkritierien und pauschalisierender Interpretationen wurde nun mit der Authentizität persönlicher Erfahrungen zu begegnen versucht.“
Tatsächlich werden in den Erlebnisberichten einige Legenden zurechtgerückt. Dabei wird Wert auf die Zeitzeugenschaft gelegt, nicht auf Prominenz – wenn auch einige der Interviewten diese für sich in Anspruch nehmen könnten. Deshalb verzichten die Herausgeber auch auf biografische Angaben – die kann sich der Leser anhand der persönlichen Schilderungen unschwer selbst zusammensetzen. Fast alle Zeitzeugen hatten irgendwann in ihrem Leben etwas mit Kunst oder Medien zu tun, und sie alle liebten ein mehr oder minder unangepasstes Leben (obwohl manch einer auch zumindest zeitweilig in der SED war). Einige hatten gelegentliche Festnahmen oder wochen- und monatelange Haft zu erdulden. Aber ebenso gab es für fast alle die Lebensfreude, die sich gerade in Prenzlauer Berg für die, die etwas anders sein wollten, einstellte, verbunden mit der Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen. Die meisten wollten nicht in den Westen, sondern eine freundlichere DDR. Unter ihnen sind Filmemacher wie Mario Achsnik, Jörg Foth und Heiner Silvester, Schriftsteller wie Bert Papenfuß, Richard Pietraß und Peter Wawerzinek, auch die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe ist dabei. Viele von ihnen sehen die Entwicklung nach 1990 – nicht nur, was die Struktur des Prenzlauer Bergs betrifft – kritisch. Peter Brasch (gest. 2001), dessen kleine Schwester Marion in diesem Jahr ihr Erinnerungsbuch „Ab jetzt ist Ruhe“ herausbrachte, sagt rückblickend: „Also es war keine Diktatur, es war eine Diktatrie, und was wir jetzt haben, ist eine Demokratur, was im Prinzip auf dasselbe hinausläuft.“
Barbara Felsmann und Annett Gröschner geben ihren Zeitzeugenberichten Überschriften, die schon viel erzählen: „Wir waren irgendwie so fröhliche Außenseiter“ (Wolfgang Krause), „Ich war nie bei einer Lesung in der Schönfließer Straße“ (Grischa Meyer), „Prenzlauer Berg garantiert mir ein Maß an Unzufriedenheit, das ich brauche“ (Bert Papenfuß), „Es war nie so, daß wir zwei kunstbeflissene Damen dargestellt hätten“ (Elke Erb und Brigitte Struzyk). Es wird nicht nur auf ein Register verzichtet, auch auf eine Begriffs- und Abkürzungserklärung. Man setzt auf den mündigen Leser. Dafür verfügt die Neuauflage über zwei hervorragende Fotostrecken von Robert Conrad („Häuser“) und Barbara Metselaar Berthold („Menschen“). Wer sich für Geschichte interessiert und wissen will, wie man in der DDR (für die der Prenzlauer Berg im Kleinen stehen kann) wirklich gelebt hat, muss sich diese beiden Bücher zulegen.

Klaus Grosinski: Prenzlauer Berg. Eine Chronik, Karl Dietz Verlag, Berlin 2008, 400 Seiten, 19,90 Euro; Barbara Felsmann, Annett Gröschner (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg, Lukas Verlag, Berlin 2012, 462 Seiten, 26,90 Euro