15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Mythen

von Gabriele Muthesius

Ganze 60 Seiten schmal ist das Bändchen, aber die haben es in sich. In der ihm eigenen dialektischen Argumentationsweise und Schärfe geht Heiner Flassbeck – Blättchen-Lesern bestens bekannt – mit zehn Mythen in Gericht, die führende Politiker und andere verantwortliche Akteure auf deutscher, aber auch auf europäischer und globaler Bühne – mantraartig – bemühen, um uns die praktisch seit 2008 grassierende Finanz- und Wirtschaftskrise zu erklären beziehungsweise ihre jeweiligen Volten in Sachen Krisenbewältigung zu rechtfertigen:
– Mythos I: Finanzmärkte sind effizient und fördern unseren Wohlstand
– Mythos II: Die Regierungen haben erkannt, dass sie handeln müssen
– Mythos III: Die Staatsschulden sind die eigentliche Ursache der Krise
– Mythos IV: Wir leben über unsere Verhältnisse
– Mythos V: Es gibt gar keine Euro-Krise, Europa ist wege der zu hohen Staatsschulden einiger kleiner Länder in der Krise
– Mythos VI: Ganz unabhängig von den Ursachen: Die Staaten müssen sparen
– Mythos VII: Alle müssen ohne Schulden auskommen
– Mythos VIII: Die Notenbanken inflationieren die Wirtschaft, um die Staaten zu retten
– Mythos IX: Deutschland wird zum Zahlmeister Europas
– Mythos X: „Weiter so“ ist eine Option für Deutschland
Besonders erschreckend an Flassbecks Darstellung ist der von ihm vielfach untersetzte Sachverhalt, dass die verantwortlichen Krisenbewältigungsakteure sowohl auf nationalstaatlicher wie auch auf internationaler Ebene mehrheitlich keinerlei Interesse und Bereitschaft zeigen, ihren wechselnden, auch schon mal komplett gegensätzlichen Aktivitäten eine wissenschaftlich fundierte Analyse der Krisenursachen zugrunde zu legen und statt dessen auf der Basis von Glaubenssätzen und einer „Kombination von Unwissen und Vorurteil“ agieren: „Der Mythos des unfehlbaren Marktes und des extrem fehlbaren Staates überlagert jeden Versuch einer objektiven Ursachenanalyse.“
Das führte unter anderem dazu, dass erst die US-Notenbank mit ihrer langjährigen Politik des billigen Geldes als Hauptschuldiger an der Finanzkrise ausgemacht und anschließend der vermeintlich ursächliche Virus zur Therapie mutierte: Die Zentralbanken fluteten die Finanzmärkte mit noch sehr viel mehr, noch billigerem Geld und gaben dem Casinokapitalismus so die Mittel zum Aufbau der nächsten Spekulationsblasen. „Ein solches Verhalten der Politik“, schreibt der Autor, „kann man nur mit Ideologie oder der Dummheit der dahinterstehenden Wissenschaft erklären – oder mit beidem zugleich.“ Die Konsequenz: „Wer glaubt, sich mit ideologisch geleiteter Brachialgewalt über die Ursachen von Krisen einfach hinwegsetzen zu können, muss langfristig scheitern, weil er einfach immer das Falsche tut.“
Nochmals zu erklären, was zu tun das Richtige wäre, unterlässt der Autor in der vorliegenden Schrift, weil er dies „an anderer Stelle im Detail getan“ habe. Allerdings beklagt er zugleich, dass seine Vorschläge nicht „in der nötigen Breite aufgegriffen worden wären“. Das provoziert die zugegebenermaßen provokatorische Frage, ob sich das chinesische Aperçu, dem zufolge die Wiederholung die Mutter der Weisheit, vielleicht noch nicht bis zum Genfer See herumgesprochen hat.
In einem Punkte soll dem Autor abschließend ausdrücklich widersprochen werden. Flassbeck meint nämlich, „dass ‚die Wirtschaft’ bzw. ‚der Kapitalismus’ […] nur Instrumente sein dürfen, die die Gesellschaft einsetzt, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen“, und dass daraus folge, „wenn wir erkennen, dass wir ihn (den Kapitalismus – Anm. G.M.) nicht beherrschen und er in einer bestimmten Form mehr schadet als nutzt, dann kann man ihn selbstverständlich im Interesse der Allgemeinheit ändern – solange die Demokratie noch besteht […].“ Das allerdings ist auch nur ein Mythos, denn für die Demokratie insgesamt gilt wohl eher, was von einer ihrer Hauptzutaten schon länger gesagt wird: „Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten.“* Schließlich führt der Kapitalismus nicht nur in China vor, dass er in besonders dynamischer Form bestens ohne parlamentarische Demokratie westlichen Zuschnitts auskommt.
Doch auch wenn Flassbecks Änderungsansatz kein real gangbarer ist: Wenn sich die Systemfrage stellt, hat die Geschichte noch immer ein Weg gefunden, sie zu beantworten. Leider trugen diese Antworten bisweilen das Etikett „finsterste Barbarei“ …

* – Dieses Bonmot wird häufig, aber fälschlicherweise Kurt Tucholsky zugeschrieben.

Heiner Flassbeck: Zehn Mythen der Krise, Surkamp Verlag, Berlin 2012, 60 Seiten, 4,99 Euro