15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Das deutsche Kapital und die Krise des Euro (II)

von Heiner Flassbeck, Genf

Ich komme zurück zur Geschichte aus der vorangegangenen Ausgabe, deren Auflösung ich noch schuldig bin. Wir waren bei den Target-Salden der Europäischen Zentralbank (EZB) gelan­det und der von Prof. Sinn aufgestellten These, dass diese Salden eine Finanzie­rung der Leistungsbilanzdefizite in Süd­europa durch die monetäre Hintertür bzw. durch den Steuerzahler bedeuten.
Es steht heute außer Zweifel, dass die Salden nicht nur Ausdruck der Ungleich­gewichte in den Leistungsbilanzen im Euroraum sind, sondern auch Kapital­flucht aus Südeuropa widerspiegeln. Das aber heißt, dass Ersparnisse per Saldo aus Südeuropa abgezogen und im Nor­den angelegt werden. Damit fällt Herrn Sinns These vollkommen in sich zusam­men. Wenn ein Phänomen wie die Leis­tungsbilanz-Ungleichgewichte bestehen bleiben kann, obwohl seine Basis (deut­sche Sparsalden) nicht nur weg gebro­chen sind, sondern sich in ihr Gegenteil verkehrt haben, dann lässt das nur den Schluss zu, dass Sparsalden niemals Ba­sis für deutsche Leistungsbilanzüber­schüsse waren. Es war nicht der Kapital­markt, der den Gütermarkt dominiert hat, sondern es war umgekehrt: Der Ka­pitalmarkt folgte dem Gütermarkt, nur die Art der Finanzierung wechselte.
Eine konsistente Geschichte entsteht erst, wenn wir uns vollständig vom neo­klassischen Modell des sparenden Haus­halts als Kern der Geschichte lösen. Die Ungleichgewichte im Handel sind ent­standen, weil die Wettbewerbsfähigkeit der Länder im Norden und im Süden der Eurozone auseinander gelaufen ist. Das war das Ergebnis politischer Eingriffe in die Tarifautonomie im Norden (Standort­politik nach Muster der Agenda 2010) und einer gewissen Laxheit bei den Tarif­abschlüssen im Süden. Der Norden, vor­rangig Deutschland, gewann Marktantei­le, der Süden verlor sie. Diese Salden wurden, wie meist in solchen Fällen, fi­nanziert von den Banken in allen betei­ligten Ländern im guten Glauben, in der Währungsunion sei Vorkehrung getrof­fen worden, dass es irgendwann wieder zu einem Ausgleich der Wettbewerbs­fähigkeit kommt.
Das aber war der entscheidende Irr­tum. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Norden systematisch unter dem vereinbarten Inflationsziel von zwei Prozent bleiben würde und der Süden darüber. Mit der Finanzkrise wurden vie­le Anlagen einer kritischen Überprüfung unterzogen und die Fragilität vieler süd­europäischer Länder wurde den Markt­teilnehmern bewusst. Die Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite ging weiter, wenn auch zumeist nur zu wesentlich höheren Zinsen. Weil die Leistungsbi­lanz-Ungleichgewichte unter normalen Umständen in einer Währungsunion nur über viele Jahre beseitigt werden können, muss der Staat (oder die Staaten-Gemeinschaft) bei der Finanzierung tem­porär einspringen, will er die Währungs­ordnung retten. Das kann aber nur gelin­gen, wenn er die Ursache der Misere, das Auseinanderlaufen der Wettbewerbs­fähigkeit bei der Wurzel packt und beide Seiten dazu verpflichtet, effektive Anpas­sungsmaßnahmen zu ergreifen.
Davon kann in Europa aber nicht die Rede sein. Mit der Obsession, die „Staats­schuldenkrise“ bekämpfen zu wollen, ge­schieht nicht das, was geschehen müsste, um Vertrauen wiederherzustellen. Im Gegenteil: Die weit überzogene Austeritätspolitik zerstört die letzten Reste an Vertrauen in der Bevölkerung. Die Folge: Die Menschen ziehen ihre Ersparnisse aus den unter Druck befindlichen Län­dern ab und begeben sich in den schein­bar sicheren Hafen der Überschusslän­der. Das verschärft das Finanzierungs­problem dramatisch. Diese würde viele Banken in den Defizitländern in den Ruin treiben, wenn sie nicht die EZB als letzten Rettungsanker hätten. Sie kön­nen so ihre Handelsgeschäfte oder den Staat weiter finanzieren und der Saldo in der Leistungsbilanz kann weiter beste­hen. Ohne diese Möglichkeit müssten diese Länder aus der Währungsunion ausscheiden und abwerten, sobald sie eine eigenständige Währung haben. Um auf diesem Weg sehr schnell ihre Wettbe­werbsfähigkeit wiederherzustellen und in eine Überschussposition zu kommen.
Die von der EZB in Umlauf gebrachte Geldmenge wird vor allem über die Ban­ken der Defizitländer in das System gege­ben. In den nationalen Zentralbanken dieser Länder entsteht eine weiter stei­gende Verschuldungsposition, während sich in Deutschland eine Forderungspo­sition aufbläht.
Das alles ist schlimm, aber die Tatsa­che, dass Herr Sinn den Target-Saldo entdeckt hat, macht es nicht besser. Es bleibt richtig, was schon immer richtig war, aber von der Politik mit Gewalt ver­drängt wird: Massives Auseinander­laufen der Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanz-Ungleichgewichte zer­stören eine Währungsunion und müssen beseitigt werden. Das geht aber nicht ein­seitig. Nur wenn die Überschussländer bereit sind, Defizite zu machen, also den bisherigen Defizitländern ihre Über­schussposition zu überlassen, können letztere ihre wirtschaftliche Lage norma­lisieren und ihre Schulden zurückzah­len. Verweigert sich das größte Über­schussland dem, muss die Währungs­union früher oder später zerbrechen.
Leistungsbilanzsalden haben nichts mit dem „Sparwunsch“ eines Landes oder mehrerer Länder zu tun, sondern mit realen Faktoren, von denen die in­ternationale Wettbewerbsfähigkeit der wichtigste ist. Leistungsbilanzdefizite lassen sich ohne vollständigen Zusam­menbruch der Konjunktur und ergo der Importe oder/und über eine starke Ab­wertung nicht in kurzer Zeit beseitigen.
Das schafft ein temporäres Finanzierungsproblem, das gelöst werden muss. Wer es löst, ist nicht entscheidend. Wohl aber, dass die Ursachentherapie im Defizit- und im Überschussland angepackt wird. Geschieht das alles nicht, und gibt das Überschussland seine Position nicht auf, muss es am Ende auf seine Forderungen verzichten. Sie sind uneinbringbar. Ob der Staat oder Private betroffen sind, ist weniger bedeutsam als die Frage, wie viel Schaden bis dahin in den beteiligten Ländern angerichtet worden ist.

Aus Wirtschaft und Markt Juni / 2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.