von Heiner Flassbeck, Genf
Ich komme zurück zur Geschichte aus der vorangegangenen Ausgabe, deren Auflösung ich noch schuldig bin. Wir waren bei den Target-Salden der Europäischen Zentralbank (EZB) gelandet und der von Prof. Sinn aufgestellten These, dass diese Salden eine Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite in Südeuropa durch die monetäre Hintertür bzw. durch den Steuerzahler bedeuten.
Es steht heute außer Zweifel, dass die Salden nicht nur Ausdruck der Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen im Euroraum sind, sondern auch Kapitalflucht aus Südeuropa widerspiegeln. Das aber heißt, dass Ersparnisse per Saldo aus Südeuropa abgezogen und im Norden angelegt werden. Damit fällt Herrn Sinns These vollkommen in sich zusammen. Wenn ein Phänomen wie die Leistungsbilanz-Ungleichgewichte bestehen bleiben kann, obwohl seine Basis (deutsche Sparsalden) nicht nur weg gebrochen sind, sondern sich in ihr Gegenteil verkehrt haben, dann lässt das nur den Schluss zu, dass Sparsalden niemals Basis für deutsche Leistungsbilanzüberschüsse waren. Es war nicht der Kapitalmarkt, der den Gütermarkt dominiert hat, sondern es war umgekehrt: Der Kapitalmarkt folgte dem Gütermarkt, nur die Art der Finanzierung wechselte.
Eine konsistente Geschichte entsteht erst, wenn wir uns vollständig vom neoklassischen Modell des sparenden Haushalts als Kern der Geschichte lösen. Die Ungleichgewichte im Handel sind entstanden, weil die Wettbewerbsfähigkeit der Länder im Norden und im Süden der Eurozone auseinander gelaufen ist. Das war das Ergebnis politischer Eingriffe in die Tarifautonomie im Norden (Standortpolitik nach Muster der Agenda 2010) und einer gewissen Laxheit bei den Tarifabschlüssen im Süden. Der Norden, vorrangig Deutschland, gewann Marktanteile, der Süden verlor sie. Diese Salden wurden, wie meist in solchen Fällen, finanziert von den Banken in allen beteiligten Ländern im guten Glauben, in der Währungsunion sei Vorkehrung getroffen worden, dass es irgendwann wieder zu einem Ausgleich der Wettbewerbsfähigkeit kommt.
Das aber war der entscheidende Irrtum. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Norden systematisch unter dem vereinbarten Inflationsziel von zwei Prozent bleiben würde und der Süden darüber. Mit der Finanzkrise wurden viele Anlagen einer kritischen Überprüfung unterzogen und die Fragilität vieler südeuropäischer Länder wurde den Marktteilnehmern bewusst. Die Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite ging weiter, wenn auch zumeist nur zu wesentlich höheren Zinsen. Weil die Leistungsbilanz-Ungleichgewichte unter normalen Umständen in einer Währungsunion nur über viele Jahre beseitigt werden können, muss der Staat (oder die Staaten-Gemeinschaft) bei der Finanzierung temporär einspringen, will er die Währungsordnung retten. Das kann aber nur gelingen, wenn er die Ursache der Misere, das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit bei der Wurzel packt und beide Seiten dazu verpflichtet, effektive Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen.
Davon kann in Europa aber nicht die Rede sein. Mit der Obsession, die „Staatsschuldenkrise“ bekämpfen zu wollen, geschieht nicht das, was geschehen müsste, um Vertrauen wiederherzustellen. Im Gegenteil: Die weit überzogene Austeritätspolitik zerstört die letzten Reste an Vertrauen in der Bevölkerung. Die Folge: Die Menschen ziehen ihre Ersparnisse aus den unter Druck befindlichen Ländern ab und begeben sich in den scheinbar sicheren Hafen der Überschussländer. Das verschärft das Finanzierungsproblem dramatisch. Diese würde viele Banken in den Defizitländern in den Ruin treiben, wenn sie nicht die EZB als letzten Rettungsanker hätten. Sie können so ihre Handelsgeschäfte oder den Staat weiter finanzieren und der Saldo in der Leistungsbilanz kann weiter bestehen. Ohne diese Möglichkeit müssten diese Länder aus der Währungsunion ausscheiden und abwerten, sobald sie eine eigenständige Währung haben. Um auf diesem Weg sehr schnell ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen und in eine Überschussposition zu kommen.
Die von der EZB in Umlauf gebrachte Geldmenge wird vor allem über die Banken der Defizitländer in das System gegeben. In den nationalen Zentralbanken dieser Länder entsteht eine weiter steigende Verschuldungsposition, während sich in Deutschland eine Forderungsposition aufbläht.
Das alles ist schlimm, aber die Tatsache, dass Herr Sinn den Target-Saldo entdeckt hat, macht es nicht besser. Es bleibt richtig, was schon immer richtig war, aber von der Politik mit Gewalt verdrängt wird: Massives Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbilanz-Ungleichgewichte zerstören eine Währungsunion und müssen beseitigt werden. Das geht aber nicht einseitig. Nur wenn die Überschussländer bereit sind, Defizite zu machen, also den bisherigen Defizitländern ihre Überschussposition zu überlassen, können letztere ihre wirtschaftliche Lage normalisieren und ihre Schulden zurückzahlen. Verweigert sich das größte Überschussland dem, muss die Währungsunion früher oder später zerbrechen.
Leistungsbilanzsalden haben nichts mit dem „Sparwunsch“ eines Landes oder mehrerer Länder zu tun, sondern mit realen Faktoren, von denen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der wichtigste ist. Leistungsbilanzdefizite lassen sich ohne vollständigen Zusammenbruch der Konjunktur und ergo der Importe oder/und über eine starke Abwertung nicht in kurzer Zeit beseitigen.
Das schafft ein temporäres Finanzierungsproblem, das gelöst werden muss. Wer es löst, ist nicht entscheidend. Wohl aber, dass die Ursachentherapie im Defizit- und im Überschussland angepackt wird. Geschieht das alles nicht, und gibt das Überschussland seine Position nicht auf, muss es am Ende auf seine Forderungen verzichten. Sie sind uneinbringbar. Ob der Staat oder Private betroffen sind, ist weniger bedeutsam als die Frage, wie viel Schaden bis dahin in den beteiligten Ländern angerichtet worden ist.
Aus Wirtschaft und Markt Juni / 2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Euro, Heiner Flassbeck, Kapital, Krise