15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

„O Israel! Du hast das Schwert geschliffen…“ Offener Brief an Wolfgang Schwarz

Durch die Macht der Argumente,
Durch der Logik Kettenschlüsse
Und Zitate von Autoren,
Die man anerkennen müsse, […]
Heinrich Heine.

Lieber Herr Schwarz,

nach einer Weile des Abwägens möchte ich es jetzt formulieren: Ihr Beitrag „Was auch gesagt werden musste“ (Blättchen 8/2012 – Anm. d. Red.) war für mich ein Schlag in die Magengrube, und ich gestehe es offen: Ich habe nicht nur Lust zu widersprechen, sondern durchaus Lust zu streiten.
Kritisieren möchte ich nicht, dass Sie Kritik üben an der Politik Israels, kritisieren möchte ich, dass diese Kritik der verwickelten Historie nicht gerecht wird. Ausgerechnet der Nahost-Konflikt ist derart kompliziert, dass Vereinfachungen uns nicht weiterhelfen. Die Unabhängigkeitserklärung Israels war bekanntlich kaum verlesen worden, als die Kriegserklärung der Nachbarstaaten erfolgte – und der weitaus größte Teil der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, daran sei an dieser Stelle auch erinnert, stammte aus Osteuropa, manche von ihnen waren die einzigen Überlebenden ihrer Familien. Und um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Diese Geschichte – vielmehr: diese Geschichten, denn eine Vielzahl von Erinnerungen ist es, die sich hier miteinander verflechten – sind anders als in ihrer ganzen disparaten Fülle nicht zu erfassen. Ein kurzer Blick nur in Amos Oz` „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ dürfte deutlich machen, dass dieser Konflikt deshalb so entsetzlich ist, weil sich in ihm genau das bewahrheitet – und das gilt für beide Seiten –, was Jehuda Amichai in einem seiner Gedichte schreibt: „Der Ort, an dem wir Recht haben,/ ist zertrampelt und hart/ wie ein Hof.“
Zugleich dürfen die vergangenen 54 Jahre aber auch belegen, dass das israelische Gefühl der Bedrohung keine Einbildung ist. Und alle Mythen, die dieser Realität entspringen (ich denke etwa an Tom Segevs alles andere als unkritisches Buch „1967“), lassen sich in ihrer Tragweite wohl nur verstehen, wenn man sie noch einmal neben die Texte hält, die Hannah Arendt 1941–1945 für die Zeitschrift „Aufbau“ schrieb. Womit ich keineswegs sagen will, dass wir es hier im Hinblick auf die heutige Situation mit Entsprechungen im Sinne bruchloser Kontinuitäten zu tun hätten, eine solche Annahme wäre absurd. Durchaus aber sagen möchte ich, dass eine Kritik, die diese Geschichte nicht entsprechend berücksichtigt, es sich zu einfach macht mit ihrem Anspruch, den Konflikt auf den vermeintlichen Punkt zu bringen.
„Dümmliche proisraelische Nibelungentreue“ – wollen Sie damit wirklich suggerieren, eine Versicherung von deutscher Seite, dass am Existenzrecht Israels kein Zweifel bestehe, befände sich auf dem Niveau der Durchhalteparolen, die in den Kessel von Stalingrad geschickt wurden? Wäre das also die letzte Frucht einer „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit – dass sich die Welt am besten erklären lässt, wenn als erstes der Sündenbock identifiziert wird, der schuld ist an der Misere? Und da die Israelis von heute die Juden von damals sind, ginge die Rechnung derart hübsch und ohne störende Wirklichkeitsreste hinterm Komma auf, dass die Deutschen sich jetzt schon überlegen dürfen, wie sie das dereinst ihren Kindern erklären: dass sie sich zuerst mit den Nazis eingelassen haben, um dann, ein paar Jahrzehnte später, vor lauter schlechtem Gewissen dem Schurkenstaat Israel auf den Leim zu gehen.
In Erinnerung an den einen und anderen Essay Jean Amérys oder Esther Dischereits kann ich es nur als fatal bezeichnen, wenn in der Diskussion um den Nahen Osten – um es in Anlehnung an einen Satz aus Hannah Arendts Beitrag „Des Teufels Redekunst“ zu sagen (8. Mai 1942) – nur das übernatürlich gute Volk der deutschen Linken und das übernatürlich schlechte Volk der Israelis geistern. Mit einer derart manichäistischen Beschreibung des Konflikts fänden wir uns früher oder später auf einer Position wieder, von der aus wir getrost Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann die Hand reichen dürfen – deren Rolle auf dem Flughafen von Entebbe 1976 kann ich mir, zumal als Deutscher, nicht oft genug vor Augen halten. Und um auch hier einem Missverständnis vorzubeugen: Ich führe Entebbe weder an, um Ihnen geistige Nähe zu Böse oder Kuhlmann zu unterstellen, noch um mit einer listigen Volte zu beweisen, dass Benjamin Netanjahu auf jeden Fall Recht haben müsse, weil sein Bruder Yonathan Netanjahu damals in Entebbe schwer verwundet wurde und auf dem Rückflug nach Israel starb, sondern einzig und allein, um zu verdeutlichen, dass es nicht damit getan ist, Israel zu dämonisieren und vom Iran eventuell ein klein wenig mehr Entgegenkommen zu verlangen.
All das – um es noch einmal zu betonen – dient nicht als Argument für einen israelischen Angriff auf den Iran, sondern soll lediglich erläutern, warum ich Tiefschläge wie die „proisraelische Nibelungentreue“ für sinnlos halte. Daran, dass die Wirklichkeit verzwickter ist, als unsere deutsche Welterklärungsstube es gerne hätte, sind doch wahrhaftig weder die Juden noch die Israelis schuld.
Ein Wort vielleicht auch noch zu dem Kommentar Jakob Augsteins. Sie zitieren Augsteins Behauptung – an Verstiegenheit beim besten Willen nicht mehr zu überbieten –, wir sollten Grass dafür danken, dass er es „auf sich genommen“ habe, „diesen Satz für uns alle auszusprechen“. Wiglaf Droste – und dafür allerdings wäre zu danken – fiel dazu der Vorschlag ein, die von Augstein herausgegebene Zeitschrift „Freitag“ in „Karfreitag“ umzubenennen und zum Zentralorgan der Deutschen Christen zu machen. Was sonst noch in Augsteins Kommentar zu finden ist (die „Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen“ etwa, deren sich jeder amerikanische Präsident vor den Wahlen versichern muss), strotzt derart von Klischees, dass es fast schon peinlich ist, dem widersprechen zu müssen. Mittlerweile dürfte sich ja selbst am Stammtisch herumgesprochen haben, dass die „Protokolle der Weisen von Zion“ keine verlässliche historische Quelle sind. Jeder Präsident, und nicht nur in Amerika, sucht die Unterstützung der Lobby der Automobilproduzenten, der Lobby der Computerbranche, der Lobby der Golfspieler, der Vegetarier, der Hundezüchter, der Saunafreunde und weiß der Himmel welcher Interessenvertretung noch – aber nein, es müssen natürlich wieder die Juden sein, die – natürlich – in Amerika die Strippen ziehen. Dass ausgerechnet diese Mischung von Ressentiments zum einen in Zeiten verweist, in denen die Ideen von 1789 für null und nichtig erklärt werden sollten, und zum anderen verdächtig an das 1989 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik erschienene Israel-Buch von Arne Jörgensen erinnert,  sollte jemandem, der seine Kolumne „Im Zweifel links“ nennt, eigentlich bekannt sein. (Eine Antwort auf Augsteins Kommentar schrieb z.B. Daniel Martienssen: „Was entgegnet werden muss!“ – das nur am Rande.)
Und ein Letztes noch zu Ihrem Postscriptum: So treffend Uli Gellermanns „späte Rezension“ der „Blechtrommel“ an vielen Stellen ist – vor allem in den klaren Worten zur westdeutschen Befindlichkeit in jener Zeit, als der Roman erschien –, so fragwürdig ist auch wieder die Conclusio: „Günter Grass hat kein Bundesverdienstkreuz für seine immense literarische, politische und aufklärerische Leistung bekommen. Statt dessen ein Einreiseverbot nach Israel. Unter den aktuellen Bedingungen ist das auch eine Auszeichnung.“ Von dem absurden Bedauern einmal abgesehen (seit wann schreiben Schriftsteller, um Verdienstkreuze zu bekommen?) – wenn das die Quintessenz des Grass`schen Schaffens sein soll, dass er es also dank der großartigen „Blechtrommel“ von 1959 2012 genießen darf, sich als Opfer israelischer Machenschaften zu fühlen, hätte ich nicht übel Lust, einen Traum aus Kafkas letzten Lebensjahren in die Tat umzusetzen: nach Tel Aviv auszuwandern und Kellner zu werden.
Und um auch dies noch zu sagen: Hinsichtlich der Freiheit des Denkens wüsste ich keine bessere Schule als die erwähnten Essays Jean Amérys. Gerade im Bewusstsein dieser Freiheit aber sollten wir nicht die Wirklichkeit ausblenden, wenn sie uns nicht mehr in eine vorgefertigte Begrifflichkeit passt.

Mit besten Grüßen,
Ihr Lothar Quinkenstein