14. Jahrgang | Sonderausgabe | 21. Mai 2012

Kurz & bündig

Ich, und nicht die Anderen

Autobiografien sind en vogue. Das ist teils erfreulich, da viele davon einem den Zugang zu Werden und Sein von Personen erleichtern, die und deren Zeit  einen interessieren. Es ist teils aber auch ärgerlich, da mittlerweile ein jeder, der – wie gut auch immer – die deutsche Schriftsprache beherrscht, von einem Mitteilungsbedürfnis beseelt ist, das Elaboraten dieses Genres zur Verwässerung seiner Qualitäten gereicht.
Auch im Falle Dietmar Kellers ließe sich fragen, ob es über 20 Jahre nach dem Verbleichen seiner einstigen territorialen wie politischen Heimat die Erinnerungen des seinerzeitige DDR-Kulturfunktionärs und späteren PDS-Aktivisten unbedingt braucht, wenn es nicht nur zur positiven Selbstdarstellung gut sein soll. Und ja: Einiges ist entbehrlich an Kellers Erinnerungen, manches überflüssig in seiner Länge, manches denn doch sehr auf die Eigenbilanz bedacht denn als Beitrag zum Bedenken.
Dennoch, und das ist erheblich wichtiger als seine Schwachstellen, bietet dieses Buch etwas, was aus Kreisen verantwortlicher DDR-Linker auch über besagte 20 Jahre hinweg extrem selten öffentlich verlautbar worden ist: Selbstreflexion nämlich bezüglich der Verantwortung, die man als Funktionär – und das meint keineswegs nur Funktionsgebundene – hatte, und ehrliche Abrechnung mit dem eigenen Versagen, statt sich in die Verantwortung Übergeordneter, den bösen Klassenfeind oder die Glasnost-Verräter zu flüchten.
Dass Dietmar Keller, der sich nachweislich mit viel Lauterkeit darum bemüht hat, der schon strukturell angelegten und in den 80er Jahren immer stärkeren Verkrustung des intellektuellen Lebens in der DDR zu Aufbrechungen zu verhelfen, dieses grundlegende Versagen zum Kern seiner Bilanz macht, ist ihm hoch anzurechnen. Dass man das 2012 noch immer sagen muss, beschreibt die Ehrlichkeit unter – sagen wir mal – einer Vielzahl von Ex- und Heute-Linken auf eine ziemlich beschämende Weise.
„Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümpfe in der Hand hatte. Was ist nun zu tun – ?“, hat Kurt Tucholsky in einem Brief an Arnold Zweig gefragt. Und er hat die Antwort mitgeliefert: „Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze. Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. Nun muß – ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt. Und nicht nur: die anderen haben…. sondern: wir alle haben. …!“
Das freilich ist nicht die Sprache der Sachwalter siegreicher Geschichte. Aber das waren und sind deutsche Linke auch leider nicht. Und wenn das je anders werden sollte, wird es ohne das Bedenken Tucholskys nicht abgehen. Keller zu lesen, könnte da hilfreich sein. Man müsste dies allerdings wollen.

Heinz Jakubowski

Dietmar Keller: In den Mühlen der Ebene, Unzeitgemäße Erinnerungen, dietz Berlin 2012, 254 Seiten, 24,90 Euro

 

„Unbeirrbar rot“

Der Name Edda Tennenbaum dürfte selbst älteren Menschen in Deutschland kaum ein Begriff sein. Bestenfalls erinnern sich aufmerksame Leser des Buches „Der Aufenthalt“ von Hermann Kant, diesen Namen, verbunden mit einer Widmung, im Vorspann gelesen zu haben, was allerdings über diese polnische Kommunistin und Antifaschistin keine Auskunft zu geben vermochte.
Vor hundert Jahren war Edda Tennenbaum hingegen in Kreisen der deutschen Sozialdemokratie, zumindest in Stuttgart und im Umfeld der von Clara Zetkin geleiteten Zeitschrift „Die Gleichheit“, nicht unbekannt. Edda Tennenbaum pflegte freundschaftliche Beziehungen zu Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Hermann Duncker, sie gehörte Anfang der zwanziger Jahre der diplomatischen Vertretung Sowjetrußlands in Berlin an, geriet dank ihrer Nähe zu Heinrich Brandler und August Thalheimer in stalinistische Brandmarkungen, wurde 1937 verhaftet und zu acht Jahren GuLag verurteilt, womit sie das Schicksal von 12 ihrer 17 Familienangehörigen teilte …
Dennoch – „unbeirrbar rot“ stellte sich Edda Tennenbaum auch nach 1945 bis zu ihrem Tode 1952 neuerlich in den Dienst politischer Arbeit. Sie wurde zahlreichen jungen Deutschen in polnischen Kriegsgefangenenlagern, die nach einer Orientierung suchten und sich schließlich zu antifaschistischen Aktivitäten durchrangen, eine einfühlsame und hilfereiche Beraterin. Ihr verdankten sie Anstöße für einen Weg in ein anderes, neues Leben.
Die hier vorgelegte Publikation ist offenkundig auch eine liebe- und verehrungsvolle Danksagung an diese Frau, die bereits 1908/1909 Erinnerungen an ihre erste Verhaftung und Verbannung in deutscher Sprache mit Hilfe ihrer deutschen Freunde in zwei sozialdemokratischen Zeitungen veröffentlichen konnte. Erst kürzlich ist der vollständige Text wieder aufgefunden worden. Wie es dazu kam, wer Edda Tennenbaum war, wie bewegt, schwer und doch erfüllt ihr Leben gewesen ist, davon wird in diesem Büchlein berichtet. Es ist gut, weil wichtig, Lebensläufen wie dem der Edda Tennenbaum ein solches Denkmal zu setzen.

HWK

Heinz Deutschland / Gerd Kaiser: Ein „tüchtiger, feiner Mensch“ – „Unbeirrbar rot“, edition bodoni, Berlin 2011, 64 Seiten, 7,50 Euro

 

Was Glück ist

Grade erst ist er 70 geworden und beantwortet die Frage danach, ob er nun ans Aufhören denkt, mit der gegen sein Naturell gereizten Replik, ob der Fragesteller dieses etwa einen Picasso auch gefragt hätte. In der Tat – es wäre nachgerade bescheuert, wenn ein Künstler, – zumal ein solch begnadeter und zu Recht geliebter wie Gerhard Polt, sein Wirken von einer Alterszahl abhängig machen würde. Und so kann sich unsereins also daran erfreuen, dass der Ur-Bayer nicht ans Aufhören denkt.
Was Gerhart Polt aber sonst denkt, über Gott und die Welt, seinen Berufsstand und vieles mehr, auch solches, was auf der Bühne nicht oder doch nur adaptiert seinen Niederschlag findet, das kann man aus einem Buch erfahren, für das die renommierte Fotografin und Polt-Vertraute Herlinde Koelbl den Kabarettisten ausdauernd und tiefgehend befragt hat.
Weit entfernt von dem, was sich in der klassischen Philosophie klassisch philosophisch ausdrückt, philosophiert Polt indes doch: über Gesellschaft und Alleinsein etwa, über Sprache und Stimme, die Mediengesellschaft, Körperlichkeit, Glauben etc. pp.
Auch übers Älterwerden, vor allem irgendwie aber über das, was für ihn Glück und Zufriedenheit bedeutet: „Es ist eine Gnade, dass ich reden kann, dass ich sehen kann, dass ich riechen kann, dass ich mich bewegen kann. Es ist ein Glück, dass ich ein gesundes Kind habe und eine gesunde Frau und mit beiden ein gutes Verhältnis. Das ist Glück, und das muss ich wissen. Und in meinem Fall auch noch das Glück, dass Leute zu mir kommen und sagen, es gefällt ihnen, was ich ihnen erzähle. Kann man mehr haben? Ich strebe nicht nach mehr. Mehr geht nicht, mehr ist nicht drin, verstehst?“
„Ein Mensch, der lebt, verdient keine Biografie. Eine Biografie ist etwas für jemanden, der tot ist“, begründet Polt seinen Vorbehalt gegenüber literarischen Denkmalen dieses Genres. Das vorliegende Buch birgt ein Gespräch und ist keine Biografie und schon deshalb kein Denkmal. Den Menschen Gerhard Polt bringt es seinen Verehrern indes ähnlich nahe.

Hella Jülich

Gerhard Polt und auch sonst. Im Gespräch mit Herlinde Koelbl, Kein & Aber Zürich-Berlin 2012,
200 Seiten, 19,90 Euro

Bei Kein & Aber ist auch das gesamte Œuvre Gerhard Polts zu beziehen, darunter eine Jubiläums-Werkausgabe in zehn Bänden.

 

Von einem, der auszog, das Gruseln zu lehren

Die gesellschaftlichen Umstände sind dergestalt, dass sie auch die politischen Kabarettisten hierzulande zu einer immer schärferen Radikalität ihrer Programme getrieben haben. Wer sich in diesem Berufsstand ernst nimmt und unwillens ist, in der Belustigungsindustrie des Comedy mitzuspielen, dem bleibt in Anbetracht der immer unverhohleneren Spaltung unseres kapitaldominierten Gemeinwesens auch kaum etwas anderes übrig.
Henning Venske ist einer, von denen hier die Rede ist. Viele Jahre Mitglied der Münchner Lach- und Schiessgesellschaft hat er jüngst ein Druckwerk vorgelegt, in dem er ebenso scharfsinnig wie spitzzüngig und also gnadenlos  mit dem politischen Personal abrechnet, das uns so aufopfernd zu regieren pflegt. Was Wunder, wenn Frau Merkels merkwürdige Truppe bei Venske, oft genug per O-Ton und dessen Venskescher Exegese, wie ein Gruselkabinett daherkommt.
„Niemand hat mit so gnadenlosem Hohn und Spott den Sprachmüll unserer Obrigkeit eingesammelt und vorgeführt wie Henning Venske“ hat Fritz J. Raddatz dieses Buch geadelt und verzückt angefügt: „Ich möchte jede Seite dieses Buches küssen.“ Nun denn …

Jutta Kortus

Henning Venske: Lallbacken. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2011, 249 Seiten, 16,99 Euro

 

Das Wunder und der Alltag

Landolf Scherzer, der bekennende Thüringer, hat sich seit Jahren vor allem durch Reportagen einen Namen gemacht, deren selbst gestellter und auch realisierter Anspruch immer oberhalb des Mainstreams dieses Genres lag. Vor allem deshalb, weil es Scherzer mit unstillbarer Neugier gelungen ist, Menschen zu erkunden. Weniger in Gefilden spektakulärer Beziehungsgeflechte, vielmehr aus deren Alltag heraus, per Befragung ihres Denkens und der Schilderung ihres Handelns, schließlich, so Scherzer, „lernt man eine fremde Stadt nicht durch ihre Bauten und Museen, sondern nur durch ihre Menschen kennen.“ Wenn man gerade Scherzers Reportagen schon aus DDR-Zeiten Ehrlicheres entnehmen konnte als fürderhin im Gedruckten dieses Genres zu erleben war, spricht allemal für seinen publizistischen Ansatz.
Dass Scherzer, zunächst einem Zufall geschuldet, sich nun an das Wagnis gemacht hat, das ihm bis dahin nur aus der Ferne „bekannte“ China und also die Chinesen zu ergründen, hat den erfahrenen Reporter mangels bisherigem Zugang zu dieser doch fremden Welt freilich vor eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt, wäre ihm nicht die ebenso nahe liegende wie ertragreiche Idee gekommen, jenen Chinesen, denen er auf seiner Reise in das Reich der Mitte begegnet – sei es ein taoistischer Priester, Koch, Heiler oder eine Gefängniswärterin – die immer gleichen, durch ihre individuelle Beantwortung aber kaleidoskopartig erhellende Fragen zu stellen: Was ist für Sie ein guter Tag? Was ein schlechter? Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Was für die Zukunft Ihres Landes?
Was Scherzer zur Antwort bekommt und dies mit eigenen Eindrücken verbindet, ohne diese aber zum Maß der Dinge zu machen, vermag gewiss nicht den ganzen Kosmos des chinesischen Wunders zu erfassen und zu reflektieren. Das will dieses Buch auch gar nicht. Die Auskünfte aber, die es enthält, setzen sich sehr wohl zu einem Bild zusammen, dessen Vorzug nicht zuletzt darin liegt, dass, man nicht liest, was über China allenthalben zu lesen ist. Nicht, weil davon alles unbrauchbar wäre, sondern weil es Berichte und Kommentare über China durch das ergänzt, was so oft fehlt: das Alltagsleben der Chinesen.

Bernhard Rühlig

Landolf Scherzer: Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders, Aufbau-Verlag 2012, 360 Seiten, 19,99 Euro

 

Wildes vom Balkan

Emir Kusturica hat lediglich acht Spielfilme gedreht, was für einen Regisseur, der mittlerweile auch schon auf die 60 zugeht, ein nicht eben üppiges Œuvre ist. Dennoch gilt der Bosnier als einer der wichtigsten Autorenfilmer Europas, und wer seine Filme kennt, versteht das auch, vorausgesetzt allerdings, er vermag es, sich von Kusturicas oft derber, skurriler und naturalistischer Bildersprache einfangen zu lassen. Nun hat der gewiss nicht zu Unrecht als Exzentriker geltende Filmemacher Erinnerungen vorgelegt, die er mit „Mein bisheriges Leben“ dergestalt untertitelt, dass die Selbstbespiegelung einer Fortsetzung offengehalten wird. Der erzählende Emir Kusturica erweist sich mit diesem Buch als kongenialer literarischer Erzähler. Seine Sprache ist bildhaft, oft derb, seine Figuren oft skurril oder exzentrisch wie er selbst. All jene, die seinen Lebensweg in enger persönlicher Beziehung begleitet haben, kommen wiederum sehr liebevoll weg, auch, wenn Kusturicas Aufwachsen im Jugoslawien Titos und das Miterleben dessen mörderischen Zerfalls Anlass zu viel Bitterkeit geboten haben. Und zudem zu exponierten politischen Haltungen wie etwa der rigorosen Verurteilung des NATO-Bombardements auf Serbien, die ihm auch viel Gegnerschaft eingebracht haben. Mag unvollkommen oder gelegentlich gar unklug sein, wie Kusturica die Dinge um ihn und uns beurteilt, die eigene Haltung von öffentlichen Majoritäten abhängig zu machen, ist dieser ehrlichen Haut Sache nie gewesen.
„Emir Kusturicas Lebensgeschichte, von ihm selbst erzählt, ist ein Gesamtkunstwerk, das genau die Bilder erschafft, die man von dem berühmten Regisseur kennt: wilde Geschichten vom Balkan, quirlig, heiter, sentimental, brutal“, heißt es im Begleittext des Verlages. Und da dieser ins Schwarze trifft, sei er – gern bestätigend – hier empfehlend zitiert.

Helge Jürgs

Emir Kusturica: Der Tod ist ein unbestätigtes Gerücht. Mein bisheriges Leben, Albrecht Knaus Verlag, München 2011, 352 Seiten, 19,99 Euro

 

Herr(schaft)liche Architekturen in Mecklenburg

Dass Mecklenburg als Region der Schlösser und Herrenhäuser gilt, ist hinlänglich bekannt. Dennoch muss überraschen, wie groß allein die Zahl jener vorbildlich sanierten und öffentlich oder privat genutzten Repräsentationsbauten ist, die Wolf Karge hier vorstellt. Von den ehemals 2.200 Anlagen, so ist im Vorwort zu lesen, seien noch 1.500 erhalten und etwa 1.000 stehen unter Denkmalschutz. Gut 75 Prozent davon sind inzwischen rekonstruiert. Dieser Reichtum an Herrschaftsarchitektur ist zweifelsohne einzigartig in Deutschland. Aufgrund dieser Fülle hat sich der Autor nur auf die „schönsten und am besten sanierten Häuser“ konzentriert. Außerdem galt die Regel, dass die Häuser von ihren Eigentümern bewohnt sein müssen. Genau 152 Bauwerke werden in „Dehio“-kurzen Artikeln vorgestellt und mindestens mit einem Farbfoto illustriert. Diese Aufnahmen sind so gelungen, dass man als Liebhaber dieser Art Architektur nur bedauern kann, nicht größere Abbildungen vor sich zu haben.
Die ältesten und nicht selten überbauten Architekturen gehen zurück in das 16. Jahrhundert. Das Gros der Schlösser und Herrenhäuser stammt aus dem 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhunderts. Was aber ein Schloss, was ein Herren- oder Gutshaus ist, entzieht sich einer eindeutigen wissenschaftlichen Definition und folgt heute eher Marketingstrategien. Auf jeden Fall ist die exorbitant große Anzahl derartiger Repräsentationsbauten eine Folge der Agrikultur, die seit dem 18. Jahrhundert viele adlige Familien in Mecklenburg zu Vermögen kommen ließ. Und dieses manifestierte sich gern in stattlichen Häusern. Eine Entwicklung, die 1945 schlagartig abriss. In den ersten Nachkriegsjahren wurden die meisten Schlösser und Herrenhäuser, deren Besitzer beim Anrücken der Roten Armee in den Westen flohen, als Unterkünfte für Flüchtlinge aus dem Osten und später fast immer als Konsumverkaufsstellen und Schulen, Ferienheime und LPG-Verwaltungen genutzt. Das war nicht selten mit massiven Eingriffen in die innere Struktur der als Wohnanlagen konzipierten Bauwerke verbunden.
Entsprechend beeindruckend ist es zu sehen, was in den vergangenen zwanzig Jahren unter großem materiellem und ideellem Aufwand an Bausubstanz durch Sanierung gerettet wurde. Die meisten Besitzer, oft Nachfahren der Erbauer, haben weder Kosten noch Mühen gescheut, um aus den Bauwerken das zu machen, was sie zur Zeit ihrer Errichtung waren: Kleinode der Architektur aus mehr als zwei Jahrhunderten. Gleich ob sie privat als Wohnhäuser oder öffentlich als Hotels und Restaurants genutzt werden: ein Haus ist schöner als das andere.
Es ist an dieser Stelle kaum möglich, auch nur auf die wichtigsten einzugehen oder, ganz subjektiv, eigene Vorlieben zu benennen. Dafür sind all diese Architekturen zu individuell, gleich ob sie nun eher bescheiden ausfallen oder doch feudal daherkommen. Und wenn man schon das Glück hat, so viele Schlosshotels auf engem Raum vorzufinden, dann sollte, wer künftig an die Ostsee fährt, eine Nacht in einer der noblen Herbergen verbringen, die in allen Teilen Mecklenburgs und natürlich auch in allen Preiskategorien auf den Besucher warten.
Das einzige Objekt, das mit dem Hinweis „ungenutzt“ ausgewiesen ist, ist das Renaissance-Schloss in Gadebusch. Was andernorts gelang, sollte auch hier möglich sein: Dass diese vorzügliche Architektur des späten 16. Jahrhunderts gerettet und einer dauerhaften Nutzung zugeführt werden mag. Es muss ja nicht gleich ein Radisson-SAS-Luxushotel sein, das den Gast im einstigen Schloss der Familie von Blücher in Göhren-Lebbin bei Malchow erwartet.
Im Anhang sind neben den Anschriften der im Buch aufgeführten Bauwerke auch die Biografien wichtiger Vertreter der Schloss- und Herrenhausarchitektur in Mecklenburg zu finden. So auch die des maßgeblichen mecklenburgischen Architekten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: Paul Korff, der 1875 in Laage geboren wurde und sich im Frühjahr 1945 gemeinsam mit seiner Frau aus Furcht vor der anrückenden Roten Armee das Leben nahm.
„Schlösser und Herrenhäuser in Mecklenburg“ ist nicht nur für Kunsthistoriker ein Buch zum Schwelgen. Und da Vorpommern mit einer ähnlichen Fülle an Schlössern und Herrenhäusern aufwarten kann, hat der Autor angekündigt, die in einem eigenen Band vorzustellen. Auch in diesem Teil des Bundeslandes dürften viele architektonische Entdeckungen zu machen sein.

Anne Dresden

Wolf Karge: Schlösser und Herrenhäuser in Mecklenburg, Hinstorff-Verlag, Rostock 2011, 263 Seiten, geb., 24,95 Euro

 

Peter Dreschers Geschichte aus einem fernen Land

Der Brief – obwohl ordentlich frankiert, mit ungelenker Schrift adressiert und mit Absender versehen – kommt aus der Vergangenheit. Erhalten hat ihn der Horst Greinerstorf, ein im Thüringischen lebender Vorruheständler und Witwer. Das Schreiben, das sein ritualisiertes und eintöniges Leben in Unruhe versetzt, stammt von Jossi, dem lange verschollenen Cousin seiner Mutter. In dem Brief wünscht Jossi ein Wiedersehen. Bevor es dazu kommt, beginnt bei dem Protagonisten in Peter Dreschers Erzählung „Wurzeln schlagen“ die Erinnerung zu rotieren: Greinerstorfs Gedanken führen ihn zurück in seine Jugend, zu der auch Jossi gehörte.
So erinnert er sich, wie die Eltern über die Vertreibung aus dem Sudetenland sprachen und auch an eine „Reise ins Gestern“ zu DDR-Zeiten, bei der Horst, im Gegensatz zu seinen Eltern, keine sentimentale Rührung empfand, als ihm das Haus gezeigt wurde, in dem er einst geboren wurde. Die tschechischen Mädchen interessierten ihn mehr. Später ist es Christine, mit der er im Sommer 1970 auf einem Motorroller zu einem Familientreffen ins Erzgebirge fuhr, bei dem die Verwandten ins Nachbarland und also in ihre Vergangenheit blickten. „Wie mochte er sich fühlen“, so dachte der damals 23-jährige Horst beim Nachsinnen über seinen Onkel Hannes, „so nah an einer unüberwindlichen Grenze?“ Gleichzeitig misstraute der Junge seinerzeit seinem Onkel Bruno, der die Vergangenheit mit „Haken wir’s ab“ wegwischte.
Als Greinerstorf sich aufmacht, um Jossi zu besuchen, fühlt er sich vom ersten Moment an unbehaglich. Die Herzlichkeit aus Jugendtagen will sich nicht mehr einstellen. Zu fremd sind sie sich geworden. Das Wiedersehen hat für Jossi, der kurz darauf einen physischen Zusammenbruch erleidet, aber die positive Folge, dass Greinerstorf ihn in sein Eigenheim aufnimmt. Noch im Krankenhaus erleichtert Jossi sein Herz und gesteht, 1945 nicht nur zu Hitlers letztem Aufgebot gehört zu haben, sondern SS-Mann gewesen zu sein. Deshalb ging er nach Kriegsende in den Westen und ließ sich, da ohne Perspektive, für die Fremdenlegion anwerben, wo er traumatische Erfahrungen auf diversen Kriegsschauplätzen machte. In Emden fand er dann eine liebe Frau, verlor diese an den Krebs und sich selbst an den Alkohol. Heldengeschichten sehen anders aus. Aber diese sind seit Homer ohnehin rar geworden.
Das Thema Flucht und Vertreibung ist ganz unterschiedlich behandelt worden. Eingebunden in die große Zeitgeschichte bei Günter Grass in der mit dem Untergang des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ verknüpften Erzählung „Im Krebsgang“ oder surreal erweitert in Harald Gerlachs Roman „Windstimmen“, wo die Vertriebenen selbst als Tote in fremder Erde keine Ruhe finden. Peter Drescher belässt es in seiner Geschichte bei der Darstellung von zwei individuellen Schicksalen, wie sie der Leser aus dem eigenen familiären Umfeld noch kennen mag. Der Thüringer Autor skizziert mit Horst Greinerstorf und Jossi zwei Personen, denen das 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert der Extreme“ die Biografien geschrieben hat, die vielleicht nicht spektakulär, aber für die Generation unserer (Groß-)Väter repräsentativ sind.

Kai Agthe

Peter Drescher: Wurzeln schlagen. Erzählung, Edition Winterwork, Grimma 2011, 74 Seiten, 8,90 Euro

 

Idealist vom Arno

Es ist einer jener Namen, deren Nennung fast zwangsläufig die seines wichtigsten Werkes nach sich zieht. Und wenn es dabei um Niccolò Machiavelli geht, und es sich dann um sein berühmtes Traktat „Der Fürst“, dann folgt in der Regel die nächste Weiterung: die mindestens der Distanzierung von jenem Handbuch der Unmoral, die den politisch Machthabenden nicht nur frei spricht von Moral und Recht sondern deren Bruch als Erfolgsgaranten feiert.
Über Machiavellis „Fürsten“ gibt es Unmengen an Abhandlungen. Und die erste Biografie des Florentiners ist Volker Reinhardts „Die Kunst der Macht“ auch nicht. Indes ist ihr das besondere Merkmal zuzubilligen, sich eben nicht auf das Phänomen besagten Machiavellismus zu konzentrieren, sondern auf den Menschen, der – wie Reinhardt denn auch zeigt, sich keineswegs auf jenen Zyniker reduziert, als der er durch seinen „Fürsten“ bis heute gilt. Vielmehr hat Reinhardt die Überraschung zu bieten, Machiavelli vorrangig als einen Idealisten zu outen, dem an einer perfekten Republik gelegen ist, die ihren Bewohnern ein gutes Leben ermöglicht.
Was Machiavelli seinen Zeitgenossen  – und im Grunde selbst uns Heutigen – mit seinem „Fürsten“ provokativ zumutet, ist nicht das Gedankengespinst eines lebensfremden Beobachters.  Immerhin war Machiavelli als gewählter Sekretär der „Signoria“, der Florentiner Regierung also, ein praktizierender Politiker; ein Umstand, der dank seines staatsphilosophischen „Fürsten“ biografisch in den Hintergrund getreten ist – ein Umstand, dem Reinhardt mit seiner neuen Biografie Abhilfe leistet.
Machiavelli war Diplomat für Florenz, pflegte Umgang mit den Borgias, mit Ludwig XII., Kaiser Maximilian, Papst Julius II., mit Leonardo da Vinci … Und er hat Machtpolitik auch an eigenem Leibe erfahren müssen, als er, der Teilnahme an einer Verschwörung bezichtigt, erst gefangen gehalten und dann aufs Land verbannt und erst spät rehabilitiert wurde.
Bei seiner Analyse der republikanischen Zustände am Arno hat Machiavelli übrigens darauf  hingewiesen, dass mehr und mehr die Wirtschaftsgrößen die politischen Geschicke beeinflussen, dann kommt unsereinem dies doch sehr heutig vor.
Reinhardts Buch wäre eine noch bessere Lesbarkeit zu wünschen gewesen, ein Gewinn dürfte es für den, der es mit Interesse liest, in jedem Falle sein.

Ralf Schäfer

Volker Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biografie, C.H. Beck, München 2012, 400 Seiten, 24,95 Euro

 

Im Schatten der Geschichte

Wer sich für das legendäre und Europa bis heute so prägende Römische Reich interessiert, dem wird seit je her jede Menge Stoff geboten, sich darein zu vertiefen. Dass im Zentrum einschlägiger Geschichtsschreibung (und gemeint ist hier lediglich die seriöse) die Mächtigen dieses Reiches stehen und nachstehend dann dessen größte Geister, was ja nicht unbedingt identisch ist, versteht sich. Und dass dabei unterbelichtet geblieben ist, wie Ottus Normalverbraucherus seinerzeit gelebt und auf seine Weise diesem Reich seinen Stempel ebenfalls aufgedrückt hat, war bisher fast eine literarische Fehlstelle. Nun ist sie zumindest großteilig ausgefüllt, mit einem Opus, das die Vorzüge historischer Verbürgtheit mit deren fast spannend zu lesender Reflektierung so zu verbinden vermag, auf dass unsereinem klarer denn je werde, dass die römische Elite, der wir die Geschichtsschreibung des Imperiums danken, essentielle Bereiche der seinerzeitigen Gesellschaft weitestgehend ausgespart hatte. Machte besagte Elite doch lediglich ein halbes Prozent der Bevölkerung Roms aus. Der „Rest“:?
Robert Knapp ist der Verdienst  zuzuschreiben, uns nun mit ausführlichem und detailliertem Wissen über das Alltagsleben in Rom ausgestattet zu haben. Nicht neuerlich also das der Imperatoren, Senatoren, Philosophen und Rhetoren – nein, bei Knapp stehen Gladiatoren, Prostituierte, Soldaten, Banditen … – also einfache Männer und Frauen im Zentrum der Aufmerksamkeit, ohne die es auch die Eliten und deren geschichteprägendes Werk nicht gegeben hätte.
Nicht nur die bildhaften und faktisch belegten Beschreibungen dieses Lebens an sich ist von Wert. Mehr noch ist es sicher der Abgleich mit den Überlieferungen der „Großen“, der rede- und schriftkundigen Geister des Reiches, denen Knapp Faktisches anbei gibt, das da und dort allemal auch zu Neubewertungen Anlass gibt.

Peter Kolleg

Robert Knapp: Römer im Schatten der Geschichte, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 398 Seiten, 24,95 Euro

 

Poesie für Klein (und Groß)

Hans-Joachim Gelberg ist Autor, Herausgeber und Verlagsleiter in einem. Und er  ist ein leidenschaftlicher Liebhaber von Gedichten und dies nicht nur für deren Leser gesetzten Alters. Bereits vier Lyrik-Anthologien, die seinem herausgeberischen Engagement  zu verdanken sind, hat er nun eine fünfte hinzugefügt. „Wo kommen die Worte her“ fragt die für „Kinder und Erwachsene“ gedachte Sammlung von neuen Gedichten und Zeichnungen der hier versammelten 200 Autoren und Illustratoren. Und es gibt Antworten aller Couleur: Frech, komisch, nachdenklich, kritisch, verträumt, rätselhaft – eine blanke Freude für jene Kinder, deren Eltern ihnen zu solchem Genuss für die junge Geistes- und Gefühlswelt verhelfen. „Eine Lyrische Sammlung, ein Buch wie dieses, landet zuerst auf dem Tisch der Erwachsenen. So sind die Spielregel“ weiß Hans-Joachim Gelberg und führt logisch fort: „Somit meint es auch den Erwachsenen als Vor- und Mitleser; denn das Haus der Kindheit steht jedem offen. Nach dem Lesealter wird nicht gefragt.“ Dem poetischen und wundervoll edierten Band sind viele, viele Leser, Zuhörer von Vorgelesenem und Betrachter zu wünschen.

Ursula Bertram

Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.): Wo kommen die Worte her. Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene, Beltz & Gelberg, Weinheim, Basel 2011, 264 Seiten, 19,90 Euro

 

Als Blonder in Rom

„Mamma Roma“ – nun ja, Pasolinis großartiger Streifen ist ja nur sehr bedingt als Liebeserklärung an Italiens Hauptstadt gemeint, irgendwie bringt sich dieser Filmtitel denn aber doch in Erinnerung, wenn man sich Martin Zöllers launiges „Madonna, ein Blonder!“ zu Gemüte führt. Denn offenkundig ist die lebenspralle Metropole am Tiber dem deutschen Korrespondenten zu einer Art Mutter geworden, seit sie ihm – einem in den südlichen Breiten zumal exotisch Blonden – Zweitheimat geworden ist.
Was Zöller in gut zwei Dutzend Geschichten erzählt, ist jedem, der Rom auch nur länger als einen Tag hat kennen lernen können, plausibel und vielleicht sogar ein wenig vertraut. Römische Lebensart zwischen Chaotik, zumindest nach heimisch deutschem Verständnis, und liebevoller Zuwendung, von schweißtreibender Unzuverlässigkeit, jedenfalls nach preußischem, selbst des Autors heimatlichen, also bayerischen, Maßstäben, zwischen dem Charme des Verfalls und der Liebe zur Schönheit bis ins Detail, zwischen archaischem Machismos und verlässlicher Freundschaft, von allerfeinster Küche und kulturvollem Kunst- und Genussverständnis sowieso. Alles Erlebte und Beschriebene lediglich mit nur wenig Erfundenem verbunden, also weitestgehend authentisch.
Und dies eben erlebt als „Biondo“, Blonder also, der sich ins römische Zeug legen kann, wie er will, er bleibt den Einheimischen eine Art Alien. In Restaurants wird ihm das Touristenmenü vorgesetzt, für Straßenmusiker ist er ein ebensolcher Magnet wir für Straßenräuber.
Ein Buch, das dem Romliebhaber Rom noch lieber werden lässt, den Autoren dieser Zeilen – gelegentlich übrigens auch des Blättchens, dank seines Vermögens, unsereinen nicht zuletzt mittels einem gehörigen Talent zu Komik und Selbstironie sympathisch macht und den Wunsch nach mehr solcher Alltagsgeschichten fast zwangsläufig nach sich zieht.

Hagen Holter

Martin Zöller: Madonna, ein Blonder, Ganz und gar nicht alltägliche Geschichten aus Rom, Heyne, München 2012, 287 Seiten, 8,99 Euro